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33 Frauen

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33 Frauen – #7 Janet Goodrich

25. Mai 2022
Janet Goodrich
Janet Goodrich

Janet Goodrich #33 FrauenDr. Janet Goodrich war eine amerikanische Sehlehrerin und Psychologin, sie ist 1942 in Michigan geboren und 1999 gestorben.

Ich nehme an, das niemand das Wort Sehlehrerin schon einmal gehört hat und im Deutschen existiert es auch nicht wirklich. Das ist  interessant, denn wenn ich als Kind gewusst hätte, dass es Menschen gibt, die anderen das Sehen beibringen oder mir Augenärzt:innen davon erzählt hätten – ja, wer weiß.

So musste ich sie selbst herausfinden. Janet Goodrich ist eine Frau, die mich beeindruckt hat und sie passt gut zur übrigen Gruppe der Frauen, weil sie mit Leidenschaft für etwas einstand, das andere für gegeben oder unwichtig hielten. Wie sehen Menschen? Warum werden sie kurz- oder weitsichtig? Wie kann man das ändern, beheben?

Janet Goodrich #33 FrauenSie war nicht die Erste, die das machte, auch nicht die erste Frau, aber etwas an der Art, wie sie über das Sehenlernen schrieb war neu und liebevoll für mich. Als ich Ende der 80er ihr Buch entdeckte  – Janet Goodrich: Natürlich besser sehen, Freiburg  1989 – hatte ich schon einige Bücher über das Sehenlernen gelesen, mich intensiv damit beschäftigt und auch schon einige Übungen in meine mögliche Lebensroutine aufgenommen. Denn – ja, ich bin betroffen.

Kurzsichtig

Ich bin kurzsichtig. Oder sollte ich sagen … war kurzsichtig? Hm.

Für die meisten Menschen ist es ganz selbstverständlich, dass sie eine Brille bekommen und tragen, wenn sie schlechter sehen – egal ob in der Nähe oder Ferne. Für mich war es das nicht, als ich mit neun oder zehn beim Augenarzt saß. Mein Vater hatte mich hingebracht, vermutlich weil er auch eine Brille trug und meine Mutter meinte, Brillenträger müssten sich verstehen. Ist wohl so. Denn sie haben viel gemeinsam, aber das verstand ich erst später.

Überhaupt – ist schwachsichtig zu sein, eine Krankheit? Etwas, was behoben werden muss, korrigiert? Wie ein gebrochen Bein oder ein schiefer Zahn. Wir richten ihn wieder. Nein. Niemand geht davon aus, dass man jemals von einer Brille geheilt wird. Irgendwie gehen sogar alle davon aus, dass man von Jahr zu Jahr schlechter sieht, wenn man einmal damit angefangen hat, eine Brille zu tragen. Also eher, als ob man jemandem mit einem gebrochenen Bein eine Krücke gibt und sagt: Tja, damit musst du wohl demnächst laufen, weil dein Bein … nix gut.

Janet Goodrich
Ich verstand das nicht. Wieso ging das nicht wieder weg? Mit Brille fand ich mich außerdem blöd, ich wollte sie nicht tragen, auf keinen Fall. Der Augenarzt sagt irgendwas von “Vererbung”, viele sagten, ich ähnele meinen Vater, also schien es logisch. Fühlte sich nur nicht so an. Ich spielte Fußball mit meinen Brüder, ich rannte herum, Brille ging einfach nicht.

Also trug ich meine Brille – nicht. Tat einfach so, als existierte sie nicht. Allerdings sah ich nicht gut und irgendwann fiel das auch auf. In der Schule zum Beispiel. Man setzte mich in die erste Reihe und selbst da ging es dann irgendwann nicht mehr. Und ich gab auf. Okay, dann trag ich meine Brille eben. Meistens. Aber ich hasste sie. Immer.

Sehen lehren

Wie sieht die Karriere einer Sehlehrerin aus? Janet Goodrich ist in Michigan aufgewachsen, sie bekam mit 7 Jahren ihre erste Brille gegen Kurzsichtigkeit und Astigmatismus und sie trug sie die folgenden 20 Jahre. Wenn ich mir das Fotos von Janet Goodrich ansehe, dann verkenne ich das. Oder wahrscheinlich jeder. Kurzsichtige sehen nicht gerne in die Kamera, der Blick ist scheu. Die kokettieren nicht, auch nicht auf Bildern, auf denen sie offen und freundlich erscheinen sollten, damit Menschen ihr Buch kaufen. Sie wirken eher schutzlos ohne Brille. Denn das ist eine Brille auch, ein Schutz.

Goodrich studiert in Michigan Fremdsprachen. Philosophie und Verhaltenspsychologie, eine interessante Mischung. 1967 zog sie nach Kalifornien und beschäftigte sich mit den Theorien von Wilhelm Reich, mit natürlichen Geburtspraktiken und alternativer Kindererziehung und mit der Bates-Methode. Und alles gehört sehr eng zusammen.

Bates -Methode? William Bates war Mediziner und der erste Sehlehrer überhaupt. Er entwickelte in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts Sehübungen, die man noch heute in allen alternativen Sehschulen findet. Er schrieb das Buch: Rechtes Sehen ohne Brille. Er war ein Pionier. Doch sogar wenn man den Wikipedia-Eintrag unter Augentraining nach Bates liest, dann findet man dort mehr Skepsis als Anerkennung für jemanden, der die unglaubliche Entdeckung gemacht hat, das Sehen keine körperliche und angeborene Fehlstellung ist, sondern eine anerzogene oder antrainierte Fehlhaltung, die mit Emotionen, Gedanken und körperlichen Verspannungen zusammenhängt. Da könnte ich jetzt viel drüber schreiben, aber das führt sehr weit weg von Goodrich. Oder, nein, eigentlich direkt zu ihr hin.

Kurzsichtig

Okay, wer hört gerne, dass er verkrampft und umentspannt ist? Keine/r, die eine Brille trägt. Denn Kurzsichtige sind sehr oft kleine Besserwisser. Ja, auch du, Harry Potter. Und sie sind eher ängstliche und introvertierte Menschen.

Wenn wir von kurzsichtigen Menschen reden, dann meinen wir, dass sie nicht das ganze Bild im Auge haben und – auch richtig. Nicht nur optisch, sondern ganz allgemein. In Erzählungen machen wir Brillenträger gerne zu den Schlaumeiern, die etwas verklemmt sind, Kinder oder Erwachsene, denen man erst zeigen muss, wie sie aus sich herausgehen können: Leg die Brille ab, öffne dein Haar! Viele Klischees, aber ein wahrer Kern. Ganz sicher wollte ich nicht so ein Mensch sein, als ich in die Pubertät kam. Da wollen wir alle sexy und locker sein, begehrt werden und die Haare im Wind flattern lassen.

Und – wundersamerweise erfüllte sich der Traum Nun ja, nicht ganz. Mit 16 bekam ich – Kontaktlinsen. Nicht nur das, nach den Ferien tauchte ich mit neuem Haarschnitt in der Schule auf, störte mich nicht mehr daran, dass meine alten Schulfreundinnen mir keinen Platz freigehalten hatten, ließ das hässliche Entlein hinter mir und wurde ein (schüchterner) Schwan. Das fühlte sich nach einer Lösung an – doch das war es nicht.

Ganzheitliches Sehen

Janet Goodrich
1975 errichtete Goodrich das Vital Health Zentrum in Los Angeles mit dem Schwerpunkten: Verbesserung der Sehkraft auf natürliche Weise, Chiropraktik und Ernährungsberatung und leitete es bis 1983. Nach einer Vortragsreise durch Australien und einer intensiven Traumerfahrung, zog sie nach Melbourne, wo sie Lehrer:innen für natürliches Sehen ausbildete.

Was Goodrich herausgefunden hatte, fand auch ich heraus. Sehen ist ein ganzheitlicher Vorgang. Ihn zu korrigieren, ob mit Brille oder Kontaktlinsen ist nur eine Krücke. Das eigentliche “Problem” liegt tiefer.

Sie fand heraus, dass Menschen besonders in stressigen Zeiten, vor der Fahrprüfung, in der Pubertät, unter extremer Belastung – kurzsichtig wurden. Und das es meist die Menschen sind, die eher zurückhaltend und introvertiert sind, die also ihre Gefühle nicht herauslassen, die kurzsichtig werden. (Kurzsichtige Menschen unterdrücken Angst, weitsichtige Wut.) Daran musste man eben auch arbeiten, um besser sehen zu können: Der Psyche.

Also ging es in ihrem Buch nicht nur um das Trainieren der Augenmuskeln – was auch gut und schön ist – sondern vor allem um die Veränderung von Verhaltensmustern und Angewohnheiten. Uff.

Unterdrücken oder Ansehen

Ich hätte mich dem allen wohl nicht gestellt, wenn ich nicht gemusst hätte. Anfang der 80er Jahre lebte ich in einem besetzten Haus mit 40 Menschen zusammen. Niemand hielt mich für schüchtern, ich war es auch nicht (mehr). Doch die 80er Jahre waren die Jahre, in denen man in Kneipen rauchte und auf Demos mit Tränengas auf Demonstranten schoß. Meine weichen Kontaktlinsen saugten das alles gierig auf, schützen mich im ersten Moment vor tränenden Augen, doch saugen sich auch an meinem Augapfel fest und unterbanden die Zufuhr von Sauerstoff zum Auge. Kleine rote Äderchen bildeten sich neben meiner Iris und versuchten auf anderen Wegen mein Auge mit Sauerstoff zu versorgen.

Als ich endlich zum Arzt ging, da ich meine Kontaktlinsen immer schlechter vertrug, bekam ich eine beängstigende Ansage: ich würde meine Augen schädigen oder sogar erblinden, wenn ich nicht auf eine Brille umsteigen würde. Auf einmal wurden Augenübungen mein einziger Ausweg, wenn ich nicht wieder auf die Brille umsteigen wollte. Also – nach Goodrich – eine Verhaltensänderung, die noch weiter gehen musste.

Natürlich besser sehen

Das Buch “Natürlich besser sehen”, hat viele Zeichnungen, von denen ich einige hier über den Text verteilt habe. Das Buch strahlt etwas sehr Entspanntes aus. Dazu trägt auch die offene und liebevolle Art von Goodrich bei, über das Sehen lernen zu schreiben. Sie ist nie überheblich, der Ton einfach. Keine langen wissenschaftlichen Abhandlungen über das Auge, keine Fakten, die man sich nicht merken kann und die man auch gar nicht wissen will. Fast hatte ich das Gefühl, ich lese ein Kinderbuch.

Sie war eine Vorreitern, denn heute haben wir uns daran gewohnt, dass Darm mit Charme uns auf eine unterhaltsame Reise nimmt und interessanterweise erinnern die Bilder in diesem Buch mich an die Bilder in Janets Goodrichs Buch über das Sehen lernen. Okay, ich hasse diese Art von Bilder, weil sie putzig, niedlich und ungelenkt aussehen, aber genau das sollen sie. Die Angst davor nehmen, dass man hier etwas Falschmachen kann und das ist eine große Angst von Kurzsichtigen

Janet Goodrich hat mich ein gutes Stück auf dem Weg zu besserem Sehen begleitet. Der Weg ging und geht immer weiter, auf den nächsten Etappen hat mich eine andere Frau weiter begleitet, über die ich später noch berichten werde.

Für Janet Goodrich habe ich den Hashtag #klar ausgewählt. Sie hat mir einen großen Teil meiner Klarheit zurückgegeben und mir enorm viel über mich selbst klar – gemacht. Danke dafür!

 

Alle Bilder aus dem Buch: “Natürlich besser Sehen”.

 

 

33 Frauen

33 Frauen – #6 Elfriede Hengstenberg

14. November 2021
Elfriede Hengstenberg #33 Frauen

Elfriede Hengstenberg Fotograf:in unbekannt. Aus dem Buch: Entfaltungen

Elfriede Hengstenberg

Als ich 1991 mit unserem ersten Kind schwanger war, schenkte mir meine Tante – die Schwester meines Vaters – das Buch “Entfaltungen” von Elfriede Hengstenberg. Das Buch enthält eine Widmung an mich und meinen Mann mit dem Wunsch, mit uns verbunden zu sein in der Zeit meiner ersten Elternschaft und ihrer Reise nach Afrika. Doch sicher sollte es auch eine Erinnerung an das sein, was Elfriede Hengstenberg meiner Tante und mir beigebracht hat.

Elfriede Hengstenberg Entfaltungen

Hersg. von Ute Strub Heidelberg, Arbor Verlag 1991

Wenn ich zurückdenke, dann wundert es mich, für wie selbstverständlich ich alles gehalten habe, was ich von Frau Hengstenberg oder Hengsti, wie wir sie nannten, gelernt habe. Und wie selbstverständlich es zu mir kam.

“Was mich außerordentlich erfreut, ist die Tatsache, dass sich von manchen Familien bereits die dritte Generation bei mir einfindet und dass diese recht aufgeschossenen und ausgesprochen selbstständige Kindern durchaus anzuspüren ist, dass man sich ganz allgemein um stimmendere Lebensvoraussetzungen bemüht.” schreibt E. Hengstenberg 1958 an den Musikpädagogik und Mentor Heinrich Jacoby. (aus Entfaltungen)

Kindererziehung war in den 70er Jahren ein großes Thema und ich habe davon profitiert, dass meine Eltern und meine Tante mich und meine Geschwister und eigentlich alle Kinder maximal fördern wollten. Mir kam es nicht seltsam vor, wenn ich zu Bildhauerkursen oder Malklassen gebracht wurde, wenn ich Judo machen durfte oder Segeln ging. Doch – wow – heute bin ich so dankbar für dieses große Angebot. Und die Stunden bei Elfriede Hengstenberg gehörten dazu.

Elfriede Hengstenberg (1892 geboren) war ausgebildete Gymnastiklehrerin, aber noch so viel mehr. 1915 unterrichtete sie privat und an Schulen in Berlin. Nach dem Studium bei Elsa Gindler veränderte sie ihre Arbeitsweise grundlegend.

Diese selbständige Entwicklung von Bewegung sahen Pikler und Hengstenberg als Grundlage für eine gesunde Entfaltung der Persönlichkeit. Daher war die höchste Maxime von Elfriede Hengstenberg bei ihrer Arbeit mit Kindern: Achtung vor der Eigeninitiative des Kindes.“[Quelle]
Gymnastik
Elfriede Hengstenberg

sus: “Entfaltungen

Initiiert von meiner Tante meldete meine Mutter mich und meine Brüder in den 70er Jahren zu Gymnastikstunden bei Elfriede Hengstenberg an. Wir gingen zusammen mit den Kindern einer befreundeten Familie dorthin, allein das war schon aufregend. Wir waren etwa fünf Kinder zwischen sechs und neun Jahren und es kamen noch etwa drei bis fünf Kinder von anderen Familien dazu. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie es offiziell hieß: Gymnastikstunde oder Sportstunde, denn wir sagten immer: “Wir gehen zu Hengsti.”

Elfriede Hengstenberg

aus dem Buch “Entfaltungen”

Diese Frau war für mich so alt, dass ich ihr Alter unmöglich schätzen konnte. Uralt. Verknittert und aufrecht, auf eine sehr angenehme Art streng und zugleich … magisch. Eine Zauberin wie  Mc Gonagall aus Harry Potter.

Die Stunden bei Hengsti waren keine Sportstunden im üblichen Sinne, es ging um viele verschiedene Dinge, die nicht unbedingt Gymnastik waren. Heute würde ich sagen: Eine ganzheitliche Haltung. Um Beweglichkeit, Selbstvertrauen, um Zutrauen zu sich selbst. Wie sie es selbst sagte: Eigeninitiative.

Doch in meiner Erinnerung war es nur – Spielen. Einfach eine Spielstunde. Und das war großartig.

Bewegen & Balancieren

Wir trugen T-Shirts und kurze Shorts oder bunte Frotteeunterhosen. Es fühlte sich nicht nach Unterwäsche an, aber auch nicht nach Sportkleidung. Ich kann mich nicht daran erinnern, mich jemals unwohl gefühlt zu haben, auch nicht verletzlich oder entblößt. Es war wichtig, dass wir uns frei bewegen konnten und ich fand das nicht anders, als zuhause im Zimmer herumzuspringen. In den Stunden waren wir immer barfuß, Turnschuhe kamen nicht vor, sie hätten gestört.

Die Stunden fanden meist in ihrem Wohnzimmer statt. Hengsti wohnte in einer alten Villa, nicht prächtig, aber eindeutig herrschaftlich. Das Wohnzimmer war riesig. Stand da ein Flügel? Ein Esstisch? Lagen Teppiche auf dem Boden? Ich erinnere mich an das Einrollen von Teppichen, einen Parkettboden. Es war also kein Sportraum wie in der Schule, sondern etwas Privates. Unser Turnplatz war am großen Fenster, der Rest des Raumes blieb im Dunkeln.

Elfriede Hengstenberg

aus dem Buch “Entfaltungen”

Doch es gab auch eine Art Ausrüstung: Kletterstanden aus Holz, Balken, Bälle, Bänder, Kissen.

Es gab kleine Holzstühle mit geflochtenen Sitzflächen, mit denen wir sehr verschiedne Dinge machten. Eine Art Grundausstattung. Der Stuhl wurde sofort von seiner normalen Funktion befreit. Er diente als Ablage für Holzstangen, über die wir balancierten, wurde zu Türmen aufgestapelt, die wir erklettern mussten. Wir machten vor allem Geschicklichkeitsübungen. Alle hintereinander, nie wurde jemand vorgerufen oder musste etwas alleine machen.

Die Bilder, die ich hier in den Beitrag gestellt habe, sind aus dem Buch “Entfaltungen” und sind weit vor meiner Zeit bei Hengsti gemacht worden, aber die Übungen erkenne ich wieder.

Wir mussten oft Dinge auf dem Kopf balancieren. Ein Kissen, einen Ball. Nur wenn man sich konzentrierte, sich ausrichtete, gelang die Übung. Es kam darauf an, den Rücken durchstrecken, aber auch nicht zu starr machen. Sie zeigte uns Bilder von Frauen in Afrika, die aufrecht ihre Lasten auf dem Kopf trugen. Einen Wasserkrug, einen Korb mit Lebensmitteln. Ich spürte, welche Achtung sie vor diesen Kulturen hatte und erinnere mich an Gegenstände in ihrer Villa wie Vasen oder Figuren aus anderen Kulturkreisen.

Sie zeigte uns diese Bilder, damit wir lernen konnten. Die stolze Haltung der Afrikanerinnen, gefiel mir. Ohne es große zu betonen, inspirierte Hengsti unsere Weltsicht, die ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal unsere eigene war. Hunger in Afrika! Wir müssen denen helfen. Aber sie sagte: Ihr müsst von ihnen lernen. So einfach war das.

Draußen

Manchmal gingen wir nach draußen, in die Grünanlage, die direkt gegenüber der Villa lag. Dort balancierten wir Bälle auf Holzlöffeln und mussten damit laufen. Sackhüpfen oder Eierlaufen – aber immer war es etwas anders. Wer wird Erster?  – war nie die Frage, sondern eher, ob es überhaupt gelingt und wie lange.

Foto: Elfriede Hengstenberg aus EntfaltungenIn dem Buch “Entfaltungen” habe ich ein Bild gefunden, auf dem Kinder mit Fuchsschwänzen durch die Gegend laufen. Und erst in dem Moment ist sie mir wieder eingefallen: Die Sammlung von Fuchsschwänzen an Gummibändern. Vermutlich das Faszinierendste in ihrer Sammlung.

Heute ein No-go. Ich kann mir gut vorstellen, wie grausam das heutige Eltern finden würden, aber  … es waren die 70er und Fußschwänze hingen auch noch an Autoantennen und dem Gürtel einiger Männer. Und wir fanden sie cool. Toll, großartig. jeder wollte einen ganz bestimmten Schwanz ergattern. Den roten, den braunen.

Die Idee war nicht nur, sich dadurch in einen Fuchs zu verwandeln, sondern den Bereich zu spüren, wo unsere Wirbelsäule, das Rückgrat endet und früher einmal ein Schwanz ansetzte. Den Tieren hilft er, in Balance zu bleiben, Signale zu senden, zu wedeln oder sich zu sträuben. Uns fehlten etwas, das Hengsti uns mit einem Schwanz zurück gab. Etwas Wildheit. Etwas Uraltes und Wichtiges. Wir lernten, unsere Energie auf dieses neue Körperteil zu lenken. Die Verlängerung des Steißbeins zu erspüren. Und das – verändert die Haltung sofort. Und – keine Ahnung warum – es machte mich/uns gleichzeitig stolz und powerful. Mit Schwanz war alles möglich (oder war das nur mein Gefühl als Mädchen?)

Haltung

Bei Hengsti ging es viel um Haltung. Um einen aufrechten Gang. Aber nicht das autoritäre Geradesitzen, sondern die entspannte aufrechte Haltung. Selbstbewusst, stark, sichtbar.

Jetzt, nachträglich, recherchiere ich. Ach wirklich? War es nicht doch etwas autoritär gemeint? Nicht, dass ich da etwas falsch verstanden habe und da etwas war, in der Lehre, was vielleicht noch aus einer anderen nationalen Zeit übrig geblieben ist. Doch ganz im Gegenteil, was ich finde, erleichtert mich.

Verantwortung

Dirk Jordan, lange Stadtrat für Volksbildung in Berlin-Kreuzberg, hat über Elfriede Hengstenberg und ihre Freundin Gertrud Kaulitz recherchiert und geschrieben. Beide Frauen verstecken während des Nationalsozialismus Verfolgte in ihren Zehlendorfer Häusern.

Elfriede Hengstenberg hat sich an das Zusammentreffen mit Dr. Bobek später so erinnert: “… (…) Trotz mehrfacher Bewachung war es ihm gelungen, während einer Zahnbehandlung zu entkommen, Arzt und Wächter in der Wohnung einzuschliessen, dem Gewehrfeuer aus dem Fenster auszuweichen und im Aussenbezirk Zehlendorf mein Haus zu erreichen. Von hieraus, neu eingekleidet, suchte er auf unseren Rat Gertrud Kaulitz auf, die mit weiteren Freunden seine Flucht nach Markendorf i. d. Mark auf die Hühnerfarm ihrer Schwester Margret Kaulitz ermöglichte. 4 Wochen fand er dort Unterkunft und Verpflegung, bis die Häscher der Gestapo die Farm umstellten, ihn zum 2.Mal verhafteten.” (Quelle)

1963 schrieb Elfriede Hengstenberg einen Brief an die Senatsverwaltung, durch den die Ehrung der Schwestern Kaulitz als “Unbesungenen Helden” eingeleitet wurde.

“Sehr geehrter Herr Senator! Hierdurch bitte ich Sie, die 83 Jahre alte Frau Gertrud Kaulitz  in Berlin—Schlachtensee, Eiderstaedter Weg 33 in die Berliner Ehrungsaktion einzubeziehen. Frau Kaulitz hat in ihrem Hause während der Nazizeit laufend jüdische Verfolgte versteckt, beköstigt und betreut. Außerdem hat sie den wegen Hochverrats zum Tode verurteilten Dr. Bobeck, den ich ihr zugeführt hatte, nachdem er aus der Gestapohaft geflüchtet war, bei sich aufgenommen und für seine Unterbringung auf dem Lande gesorgt. Hochachtungsvoll Elfriede Hengstenberg” (Quelle)

Irgendwie ist es typisch, dass sie sich für die Freundin und Mentorin einsetzte und nicht für sich selbst. Bei ihr war wenig EGO, dafür sehr viel Aufmerksamkeit.

Musik und Bewegung
Elfriede Hengstenberg

aus: “Entfaltungen”

Gertrud Kaulitz war die Klavierlehrerin von Elfriede Hengstenberg und hat ihr zu rhythmischer Gymnastik nach Dalcroze geraten. Émile Jaques-Dalcroze entwickelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Genf eine Musik- und Bewegungsintervention, die für die Vernetzung von Gehirn und Motorik erleichtert.

Es gibt eine spielerische Verbindung zwischen improvisierter Klaviermusik, Singen und wechselnden motorischen Koordinationsaufgaben, die das motorische Gedächtnis und andere spezifische Hirnleistungen stärken. Heute wird das besondere bei alten Menschen eingesetzt, um sie geistig und körperlich beweglich zu halten. Auch etwas, was Hengsti wichtig war: Die Beweglichkeit. Sowohl im Kopf als auch im Körper.

In meiner Erinnerung gab es keine Musik, wenn wir unsere Übungen bei Hengsti machten. Manchmal gab sie mit der Triangel einen Takt vor. Oder habe ich es vergessen?

Geschicklichkeit

Meine liebsten Spiele waren Geschicklichkeitsaufgaben, die meist in eine spielerische Situation integriert waren. Wir sollten uns vorstellen, dass wir auf dem Meer seien. Die Holzhocker wurden umgedreht und waren unsere Schiffe, in denen wir standen. Um uns herum das Meer. Und dann holte sie kleine Spielzeuge. Feste kleine bunte Papierbälle, Gummitiere (die ich als Kind gesammelt habe und … wo sind die eigentlich hin verschwunden?), Glasmurmeln. Die mussten wir nur mit den Füßen greifen und einsammeln, also in unseren Stuhl holen. Nur mit den Füßen.

Die Dinge, die sie für ihre Übungen verwendete, waren für mich magisch. Hübsche Dinge, kaum Plastik nichts Hartes, alles war weich und bunt und angenehm zu ertasten, war verspielt und bunt.

Jetzt fallen mir auch die bunten Papierbälle wieder ein, die wir durch Blasen in der Luft halten mussten. Die wir uns zuwarfen und dann nur mit der Nase annehmen durften. Letztens habe ich sie in einer Ausstellung gesehen und sofort fotografiert. Dinge, die gab es damals im “Chinaladen” zu kaufen. Wieder eine andere Kultur fällt mir gerade auf, die sie uns wie nebenbei nahebrachte.

Bewegung und Ruhe

Ich habe mich immer schon gerne bewegt, war viel draußen, aber Hengstenberg hat mir nicht nur eine wilde, sondern auch eine stille Art der Bewegung beigebracht. Eine innere Bewegung. Sie hat mir gezeigt, dass ich auf meinen Körper hören kann. Nicht erst, wenn ich Muskelkater oder eine Zerrung habe, sondern dann, wenn ich still auf dem Rücken liege und in mich hinein horche. Etwas, was ich später beim Yoga oder Thai Chi gesucht und wiedergefunden habe. Eine Bewegung, die von innen nach außen geht und von außen nach innen. Achtsamkeit und etwas Sanftes.

Elfriede Hengstenberg

aus: Entfaltungen

Am Ende  jeder Stunde, sollten wir uns auf den Rücken legen und die Augen schließen. Wir legten uns hin und hörten ihrer Stimme zu, mit der sie uns aufforderte, jedes einzelne Körperteil zu entspannen. Hengsti hat mir beigebracht, wie ich mein Blut in meine Füße und Hände schicken kann, so dass mir warm wird. Wie ich in den Boden einsinken kann, mit meinem Körpergewicht. Das habe ich als Kind häufig gemacht, wenn ich im Bett gefroren habe. Das war Körperbeherrschung, aber gleichzeitig ein Loslassen, geschehen lassen.

Später hörte ich dann den Begriffe: “Autogenes Training” und stellte überrascht fest, dass wir genau das immer gemacht hatten. Und ich es schon “konnte”. Sich zur Ruhe bringen, nach einem aufregenden Tag.

Wenn ich bei Hengsti auf dem Boden lag, sah ich Bilder, stellt ich mir mein Leben vor. Dort in der großen Villa konnten alle Träume riesig werden, alles war möglich, weil Hengsti es uns zutraute. Und wollte, dass wir über uns hinauswachsen. Das Gegenprogramm zu Schule. Zu Einengung. Zu Sitzen und sich belehren lassen.

“Regeneration geschieht von selbst, wenn die Organe Raum haben, sich so zu entfalten, dass sie von Atem und Durchblutung fortlaufend belebt werden. Dann besteht ein Gleichgewicht zwischen dem Verbrauch an Energie und ihrer Erneuerung.” (Aus: Entfaltungen S. 150)

Heute finde ich es erstaunlich, wie sehr sie Dinge vorweggenommen hat, die später erst langsam populär wurden. Parkour oder Freeclimbing. Meditation, Yoga und Autogenes Training. Und ich bin extrem dankbar, dass ich das alles zu einem Zeitpunkt gelernt habe, als Körper und Geist dafür ganz offen waren.

Auch, wenn das Wort im Zusammenhang mit Bewegung vielleicht umstritten ist, habe ich für Elfriede Hengstenberg den Hashtag #aufrecht ausgewählt. Es war nicht nur Bewegung, es war – Haltung. Im Leben zum Leben. Und ich bin sehr dankbar, für alles, was ich von ihr gelernt habe.

 

33 Frauen

33 Frauen – #5 Madonna Louise Ciccone

8. Juli 2021
Madonna #33 Frauen bold
chrisweger - Madonna Rebel Heart Tour 2015 - Stockholm
Madonna Louise Ciccone – oder einfach Madonna

Vielleicht ist das jetzt eine Überraschung. Madonna! Ausgerechnet?

Ja, absolut. Und in der Ecke meines ICH, in der Madonna lebt, ist noch viel mehr: Klunker und Klimper, Trash und Punk, Cowboyboots und Country Music, Trivalkunst und rosa Lippenstift, Champagner und auch mein Rebel-ICH.

Like a Virgin

Das erste Mal habe ich Madonna Mitte der 80er Jahre wahrgenommen. Nach der Zeit der Hausbesetzung und dem Scheitern einer Künstler-WG, als ich in einer Fabriketage in Kreuzberg gestrandet bin.

Damals habe ich mir die erste Platte von ihr geholt. Ich wusste, es beginnt eine neue Phase in meinem Leben, eine, bei der ich mich nur und hauptsächlich auf mich selbst werde verlassen müssen.

Platten kaufen war in dem unsicheren Lifestyle damals, ohne eigenes Zimmer und Plattenspieler, ohne viel Ballast (vieles war bei der Räumung des besetzten Hauses verloren gegangen), eigentlich keine Option. Musik war noch nicht digital verfügbar, aber das war nicht der Punkt. Was mich bewog, die Platte anzuschaffen, war – das Cover.

Ich mochte den Vintage-Look, aber vor allem diesen leicht provokanten Blick von Madonna. Dass sie überhaupt auf dem Cover ihrer LP war, sich so inszenierte.
Angepisst und lasziv zugleich. Perfekte Balance. Die Musik war poppig, doch da war noch etwas anderes. Etwas Lautes.

Eine Frau, die provokant und punkig und glamourös war. Irgendwie alles zugleich. Und das war in den 80ern nicht selbstverständlich.

Gelebte Freiheit

Auf einmal war Madonna überall – jedenfalls für mich. Mir ging es nicht gut und ich musste mich richtig überreden, mir etwas Gutes zu tun. Leicht und hoffentlich unterhaltsam. Ins Kino zu gehen. Irgendwo am KuDamm.

So landete ich in dem Film: Deseperately Seeking Susan. Ein netter Independent-Film, der durch den Auftritt von Madonna auf einmal ein Weltereignis wurde. Umgeschnitten und angepasst auf den aufstrebenden Popstar. Und das Video zu dem Song Material Girl wurde einfach als Vorfilm gebracht. Spielfilme sind keine Realität, aber manchmal kommen sie der Realität so nah, dass ein Film sich wie eine eigene Vision anfühlen kann. Er weckte mich aus meinem Trauerzustand, elektrisierte mich. Ich kann, darf leben! So, wie ich will.

Der ganze Film kam mir wie ein Musikvideo vor, in einer Zeit, in der Musikvideos gerade erst aufkamen. Der vielleicht einzige Film, für den Madonna gelobt wurde, dabei war sie – einfach nur sie selbst.

Material Girl

Und was sang sie da überhaupt?

Some boys kiss me
Some boys hug me
I think they’re ok
If they don’t give me proper credit
I just walk away
They can beg and they can plead
But they can’t see the light (that’s right)
‘Cause the boy with the cold hard cash
Is always Mister Right
‘Cause we are living in a material world
And I am a material girl

(aus: Madonna Material Girl. Songwriter: Peter Brown / Robert Rans)
Olavtenbroek - Eigenes Werk Madonna, Rotterdam, August 26, 1987

In ihren Songs ging es um Männer – aber irgendwie auch nicht. Männer wurden nicht angehimmelt oder verehrt, geliebt und bewundert, sondern entlarvt.

I’m not afraid to fall a hundred times

And I’ll believe in all your silly lies

I’d like to think that I could change your mind

Don’t say that I am blind, I know all about your kind

He’s a pretender, yeah you meet him every day.

He’s a pretender, that fish that got away.

He’s a pretender, why’d I fall in love

(Madonna Pretender:Songwriter: Billy Steinberg / Tom Kelly)

Musikerinnen in den 80ern

Wenn sie sich am Anfang scheinbar dem Klischee von einem Popsternchen anpasste und auch die üblichen Love Songs sang, dann gab es doch einen kleinen Shift. Etwas, was sie näher an Patti Smith, Annie Lennox oder Björk rückte: Selbstbewusstsein, Stärke/Power, Eigensinn.

Patti Smith, Annie Lennox oder Björk – gefielen mir damals sehr. Ich erinnere mich an Björk, schwanger auf der Bühne, mit ihrer Band den Sugarcubes.

Doch diese Musikerinnen waren androgyner. Letztendlich unsichtbarer für Männer, weniger provokant, weniger … weiblich. Ein Trick, eine Möglichkeit, sich gegen Angriffe und Übergriffe zu wehren. Aber ich wollte nicht ausweichen. Und genau das sah ich bei Madonna.

Weiblichkeit

Die Art, wie Madonna zu ihrer Weiblichkeit stand, war neu. Ein Mix aus Weiblichkeit, Verführung, Provokation und Gesellschaftskritik. Ein unmöglicher Mix – fanden einige.

In 1989, she starred in a Pepsi commercial that was pulled because of controversy over the music video for “Like a Prayer,” which featured burning crosses and showed Madonna kissing a black actor portraying a saint.

Madonna was paid $5 million for her Pepsi commercial, which aired on March 2, 1989, during NBC’s “The Cosby Show.

The problem came the next day, when the music video premiered for “Like a Prayer.” The video included stigmata and other religious imagery. (Quelle)

Hätte sie das nicht vorausahnen können? Sich anpassen? Das, was man von Frauen eigentlich immer erwartet? Und das ist das, was ich an Madonna wirklich mag. Sie passt sich nicht an. Sie macht einfach.

Madonna ist die Herrscherin ihrer künstlerischen Aussagen. Sie ist die Queen ihres Imperiums, immer Verkünderin der eigenen Botschaft.

Trotzdem war Madonna nicht ganz allein in diesem Universum. Debbie Harry, Blondie oder Cindy Lauper hatten einen ähnlichen Look wie Madonna. Blonde Haare, rote Lippen, riesige Ohrringe. Dazu waren sie noch gute Sängerinnen, die auch schauspielern konnten, wenn es nötig war.

Was Madonna ihnen voraus hatte und hat, ist ihre Performance. Und auch das faszinierte mich. Der Auftritt. Die Show. Ihre Art, jeden Auftritt in einen Event zu verwandeln, bei dem Tanz, Choreographie, Licht, Musik und ihre eigene Performance praktisch gleichwertig nebeneinander stehen.

Szenographie

Madonna live bei der Re-Invention World Tour, 2004 Digger24 Dass Madonna nicht singen kann, darüber waren sich die Musikkritiker:innen früh einig. So what? Madonna kam ursprünglich von Tanz, sie konnte tanzen.

Jedes Konzert ist ein Statement. Und Madonna die Königin dieses Universums, das gar nicht so oberflächlich ist, wie es auf den ersten Blick wirken könnte. Denn Madonna nimmt von Anfang an Haltung ein: Ist provokant wie die Rock’n´Roller der 60er, die Rocksänger, der 70er, die Punks der 80er.

EroticaGirlieShowUnderGround.jpg: Hans Schaft derivative work: GianniG46 Outfit, Bühnenshow, Gestik, die Art, wie getanzt oder verformt wird, das alles ist die Botschaft.

Irgendwie ist es gar nicht mehr so wichtig, wie gut sie singt. Die Energie auf der Bühne, der Zusammenhalt ihrer Crew, der ganze Event – ist Szenografie – ist Kunst.

Feminsimus

Dazu kommen starke feministische Aussagen, die sich erstaunlich gut mit Korsagen und Spitz-BHs, mit Sadomasochismus und sexuellen Gesten vertragen. Madonna – eine Feministin der dritten Generation.

Ihre Bühnenshows und Videos schließen androgyne Menschen, Transsexuellen und Drag Queens ein. Und ihre größte und erste Community hat sie in der Gay-Community (ähnlich wie Lady Gaga) gefunden.

Making Of Madonna

Madonna kritisiert alte Rollenbilder, Intoleranz, die Kirche. In ihren Auftritten waren vulgäre oder anzügliche Gesten Teil der Provokation und gleichzeitig gelebte Freiheit. Ich kann tun, was ich will. 

Hans Schaft - MadonnaUnderground Photo taken by a fan during one of the concerts in 1990Ich war noch nie in einem Madonna-Konzert. Alle Auftritte von ihr kenne ich aus Musikvideos oder später aufgezeichneten Bühnenshows und das ist vollkommen okay so. Ich will nicht das Fangirl vor der Bühne im Publikum sein, sondern wäre lieber hinter der Bühne. Ich wüsste gerne, wie dieses Maschinerie funktioniert. Und auch das hat mir Madonna gegeben.

In Bed with Madonna (AT Madonna: Truth or Dare) ist ein Dokumentarfilm, der während ihrer Blond Ambition World Tour (April bis August 1990) von Alek Keshishian und Mark Aldo Miceli teilweise in Farbe und teilweise in Schwarzweiß gedreht wurde.

Die Bühnenauftritte in Farbe, das Leben danach und davor in Schwarz-Weiß. Und für mich ist es so: Ihr Leben wird erst auf der Bühne bunt und aufregend und Madonna privat, ihre Ehen und Kinder, ihre Erziehung und ihr Glaube an Katholizismus und Kabbala haben mich nie wirklich interessiert.

Und obwohl ich faszinierend finde, wie viele künstlerische Seiten sie neben dem Tanzen und Singen und Performen ausgelebt hat, inspirieren mich ihre Versuche in diesen Bereichen wenig.

Madonna Fakts
  • Madonnas Mutter starb 1963 im Alter von 30 Jahren an Brustkrebs, sie war zu dem Zeitpunkt fünf.
  • Der US-amerikanische Fernsehsender VH1 kürte sie 2012 zur Greatest Woman in Music.
  • An der High School gehörte sie zu den besten zwei Prozent mit einem IQ von 140
  • 2020 wurde sie vom Billboard-Magazin zum größten Music Video Artist „aller Zeiten“ gekürt.
  • Madonna begann eine Tanzausbildung an der University of Michigan, brach sie jedoch ab.
  • Laut Time-Magazine gehört sie zu den 25 mächtigsten Frauen des vergangenen Jahrhunderts.
  • Das Rolling Stone Magazin nennt ihre Blond Ambition Tour (1990) „die großartigste Konzerttour der 90er-Jahre.“
  • Sie ist die kommerziell erfolgreichste Sängerin der Welt und auf Platz 4 der weltweit erfolgreichsten Interpreten.
Madonna forever

In den achtziger Jahren war noch nicht vorauszusehen, ob Madonna nur ein kurzer Pop-Komet sein würde, der mal eben vorüber schweift oder ob sie bleiben würde, ein Fixstern am Himmel des Musikgeschäfts. Und in gewisser Weise bin ich stolz, dass ich sie mir als Leitstern für bestimmte Ziele in meinem Leben erwählt habe, denn sie ist immer noch  – da.

 CandyShopAmsterdam.jpg: KarenBlue derivative work: Robot8A - Diese Datei wurde von diesem Werk abgeleitet: CandyShopAmsterdam.jpg: Lange bevor ich Drehbücher oder Bücher geschrieben habe oder im Filmbusiness arbeitete, hat mich beeindruckt, wie stimmig das Gesamtpaket, die Marke Madonna, ist

Mit dieser wilden Mischung von Stilen und Auftritten, Ansichten und Kostümen, Freund:innen und Fangruppen ist mir Madonna ganz nah. Und auch mit dem Wunsch, sich nicht festzulegen.

Von Madonna habe ich gelernt, dass es geht: etliche Facetten zu zeigen und trotzdem eine Haltung einzunehmen. Unkonventionell, laut, zickig, aber auch feministisch, engagiert und emphatisch zu sein. Im Grunde: Das zu sein, was man gerade sein möchte. Egal, was anderes von einem Denken oder worauf sie dich gerne festlegen wollen.

#Bold

Kurz: Wenn ich mir eine große Schwester auswählen könnte, wäre es Madonna.

Du hast mir viel beigebracht. Thank u.

33 Frauen

33 Frauen – #4 Sheila Kitzinger

29. August 2020
Sheila Kitzinger über dailymail.co.uk

Sheila Kitzinger mit ihren Zwillingstöchtern Nell & Tess 1958

Shiela Kitzinger – Sanfte Geburt

Sheila Kitzinger war eine britische Sozialanthropologin, Aktivistin und Autorin, die über Schwangerschaft, Geburt, Stillen und Erziehung forschte und sich für eine selbstbestimmte und natürliche Schwangerschaft und Geburt einsetzte. 1929 geboren – Ihr Vater ein Schneider, ihre Mutter eine Hebamme und radikale Feministin – und 2015 gestorben. Sie hatte fünf Kinder, schrieb über zwanzig Bücher und ich habe gefühlt alle gelesen.

Ich wollte immer Kinder bekommen, drei oder fünf und zum Glück wollte das meine große Liebe auch. Keiner von uns hatte jemals den Wunsch, sich sterilisieren zu lassen, obwohl das um uns herum in den 80ern der große Trend war. Wieso eine Kind in diese bedrohliche Welt setzen? Ich war mehr Team: Auf jeden Fall großartige Kinder in diese Welt setzen, schon damit sie besser wird. Und ich war mir sicher: Durch diese Erfahrung werde ich wachsen.

“The pleasures of motherhood come from being flexible enough to retain a spirit of adventure, and being able to grow through the mother-child relationship into adult friendship. For that to happen, it is futile to try to train our children into obedience or impose on them our own beliefs. They should not have to live their lives on someone else’s terms …. Then they can become their own free people.” (Sheila Kitzinger/ Quelle)

Sheila war ein Hippie – aber dann doch wieder nicht. Verheiratet mit Uwe Kitzinger, den sie in Oxford traf und 1952 heiratet. Beide hatten fünf eheliche Kinder, ein Leben innerhalb der Gesellschaft und nicht draußen. Sie war superintelligent, aber nicht nur akademisch, sondern auch emotional. Honorarprofessur an der Thames Valley University und gleichzeitig eine leidenschaftliche Mutter. Sie war keine Rebellin oder wollte es nicht unbedingt sein und war es – dann doch.

“She never hesitated to speak truth to power.” (Celia Kitzinger über ihre Mutter/Quelle)

Schwangerschaft & Abtreibung

Meine erste Erfahrung mit Schwangerschaft hatte ich mit 21. Zu früh, ich bekam sofort eine körperliche Indikation, dünn, erschöpft vom wilden Leben. So wird man manchmal schwanger, trotz natürlicher Verhütung mit einem Diafragma, noch gar nicht beim Kinderwunsch angekommen, sondern irgendwie selbst noch ein Kind. Die Abtreibung unter Vollnarkose war ein traumatisches Erlebnis und spülte nicht nur all meine tiefsitzenden Ängst, sondern auch die meiner Mutter wieder hervor, die in Zeiten vor der Pille mehrfach ungewollt schwanger wurde und ebenfalls abtrieb. Willkommen in der Welt der Frauen.

Rex Features, via Associated Press Stockfoto von Nick Skinner für redaktionelle Nutzung, 02.09.1992

Sheila Kitzinger

Erst sieben Jahre später hatte ich mich so weit erholt und mir vergeben, dass ich/wir überhaupt wieder an eine neue Schwangerschaft dachten. Diesmal wollte ich es richtig machen. Bewusst. Denn ich hatte die Zeit nach der Abtreibung gut genutzt. Sowohl um mich selbst besser kennenzulernen, zu trauern und auch, um über die Situation von Frauen in der Gesellschaft nachzudenken.

Und darüber, was Mutter sein hieß. Mutter. War das ein Vollzeitjob? Irgendwie schon. Und das war nicht fair. Also waren viele Partnergespräche wichtig, um das ganz entschieden zu klären: Wir machen das zusammen.

“Birth is a major life transition. It is – must be – also a political issue, in terms of the power of the medical system, how it exercises control over women and whether it enables them to make decisions about their own bodies and their babies. (Sheila Kitzinger/ Quelle)

Ein zweiter Versuch

Sketches by Katrin Bongard

Ich fühlte mich besser vorbereitet. Wir. Doch gleichzeitig war eine Menge Respekt für “die Sache” da. Was würde sich alles – in der Partnerschaft, im Leben – ändern? Schwangerwerden schien immer noch einfach, aber den Mut zu haben, es zu tun, fand ich nicht. Wirklich zu sagen: Jetzt.

Insbesondere die Vorstellung, dafür in eine Krankenhaus zu gehen, machte mir Sorgen. In dieser Atmosphäre ein Kind bekommen? Mit Ärzten und ständig wechselnden Krankenschwestern und Pflegern?

Ich begann zu zeichnen und fand heraus, dass ich wirklich sehr große Angst vor dem Geburtsakt hatte. Wie sollte da ein Kind herauskommen? Wie konnte das gehen? Nicht so sehr die Schmerzen machten mir Angst. sondern die Frage, wie ich das entspannt hinbekommen sollte.

Ich zeichnete eigentlich eine liegende Frau von der Seite, beobachtet beim konventionellen Geburtsvorgang, wie wir ihn i Kopf haben. Beine angezogen, Frau liegend.  Und stellte dann auf einmal fest, dass die Perspektive sich änderte, ändern konnte. Der eine Arm wurde zum zweiten Bein, ich stand vor der Frau, sah zwischen ihre Beine, konnte ihre bei “der Geburt” helfen.

Schwangerschaft

Ich begann zu lesen und fand bei Sheila Kitzinger enorm viele Argumente gegen ein Krankenhaus. Allein das Wort Kranken-Haus impliziert, das etwas nicht richtig ist, uns geholfen werden muss, das im Prinzip schon von vorn herein alles schief geht. Aber: Es geht auch anders, sagte sie locker.

Ich wurde schwanger und begann, mich mit ihren Tipps auf eine Hausgeburt vorzubereiten. Eine der wichtigsten Ratschläge war: Man soll aktiv in der Schwangerschaft bleiben. Nicht mit fünf Monaten auf das Sofa umziehen und sich schonen. Das war eine Erlaubnis, die ich sehr gerne annahm, da ich eh viel Rad fuhr und gerne aktiv war. Mir leuchtete auch vollkommen ein, dass ein Training der Mutter das Kind trainiert und bestens auf die Geburt vorbereitet.

Sheila Kitzinger zu lesen war wie einer Mentorin zuzuhören, die unaufhörlich sagt: Es geht. Du schaffst es. Schütte mal diese Angst anderer Leute ab. Bekomme ein Kind. Sei eine Rebellin. Just do it.

Denn sie schaffte es ja auch. Nicht nur Kinder in Hausgeburt zur Welt zu bringen, sondern auch, darüber Bücher zu schreiben.

“At one point in my, life I had five children — all girls — under the age of seven. And a book to write about childbirth. I wondered how I was going to manage. Then, one day, I just climbed into the children’s playpen with my books and other reference materials and started working. It turned out that I’d found the perfect solution: from then on, the playpen became maternal territory. Celia, the twins Tess and Nell, Polly and Jenny could all see exactly what I was doing. I was there if they wanted me and they were free to roam round the house. Importantly, I was in no way dominating or directing them. And far from being isolated in my study, with the children in the nursery, I was living in their world.” (S. Kitzinger // Quelle)

Geburt
Photo Credit: Sheila Kitzinger’s website

Sheila zeigt, wie man ein Baby nicht herauspressen sollte.

Ich kann nicht sagen, dass meine nähere Verwandtschaft besonders begeistert von der Idee einer Hausgeburt war. Außerdem wohnten wir zu diesem Zeitpunkt in einer Wohnung mit Ofenheizung und Aussentoilette. Das größte Problem war allerdings, eine Hebamme zu finden, die am errechneten Geburtstermin oder später Zeit oder Lust auf eine Hausgeburt hatte. 18. Dezember.

Und weil das sehr schwierig wurde, suchten wir sicherheitshalber nach alternativen Geburtsmöglichkeiten: Geburtshaus. Ein Krankenhaus, das Wassergeburt oder eine andere Art der natürlichen Geburt anbot. Das war in Berlin nicht schwer, doch am Ende wurde es eine ganz normale Krankenhausgeburt am 24. Dezember. Heiligabend. Eine wunderschöne Geburt, obwohl mir danach klar wurde, wo die Probleme einer Krankenhausgeburt liegen und wo die Kritik von Sheila Kitzinger ansetzte.

Photo by Uwe Carow

Geburt im Krankenhaus mit Isabel

Kitzinger hat ihre fünf Töchter zuhause mit einer Hebamme entbunden. Als Guru der natürlichen Geburt, machte sie selbst vor, was sie predigte, aber sie betonte auch, dass Frauen entscheiden müssten, was sich gut für sie anfühle.

Gleichzeitig machte sie sehr deutlich, was es hieß (und heißt) in dieser Gesellschaft ein Kind zu bekommen.

“When women give birth they are controlled by a male-dominated, autocratic, hierarchical medical system.” (Quelle)

Das waren Dinge, die in allen anderen himmelblauen und rosafarbenen Schwangerschaftsbüchern nicht besprochen wurden oder vorkamen. Da hörte sich das immer eher nach: Sei brav, dann wird schon alles gut gehen an. Und so gut meine Geburt im Krankenhaus war, ich war mir sicher, beim zweiten Kind wird es eine Hausgeburt.

Hausgeburt
Photo by Uwe Carow

Hausgeburt mit Lenny

Bei Kind zwei lief alles wunderbar, Schwangerschaft ohne Probleme, radfahren bis zum Geburtstag, die Hebamme ein Traum. Die Hausgeburt zu dritt, Mann, Hebamme, ich. Die ältere Tocheter war drei, aufgeregt und krank und schlief nebenan.

Die Geburt verlief problemlos. Reden wir nicht von Schmerzen, die hatte es auch bei Kind eins schon – auf meinen Wunsch – ungefiltert gegeben.

Nach der Geburt, mitten in der Nacht, habe ich mich zu der kranken Tochter dazugelegt, die am Morgen gesund war. Am Morgen konnte sie ihren Bruder begrüßen.

Das alles fühlte sich richtig an und trotzdem anarchisch. Selbst ich wunderte mich, dass unsere Hebamme in bequemen Schlabberhosen zu uns kam, kein weißer Kittel, auch kein heißes Panikwasser auf dem Herd für alle Fälle. Panik gab es nicht.

Das Private ist politisch

“Sheila may be the most important individual in the whole field of childbirth reform,” (Judy Norsigian, a co-founder of Our Bodies Ourselves)

Das Private ist politisch – war Sheila Kitzinger Ansicht und sie gilt noch immer. Sie war mehr, als eine Verfechterin der natürlichen Geburt. Sie war poetisch aktiv, kämpfte gegen Genitalverstümmelung und für besser Gefängnisbedingungen für Schwangere. 1956 war sie eine der Gründerinnen der Natural Childbirth Association, die später der National Childbirth Trust (NCT) wurde. Und sie war Autorin.

Ihr erstes Buch “The Experience Of Childbirth” erschien zuerst als Serie in der Sonntagsbeilage der lokalen Tageszeitung und wurde später ein Buch. Nach Erscheinen wurde sie zu Vorträgen eingeladen, reiste nach Australien und bekam 1982 einen MBE für ihre Arbeit. Doch um ihre Ansichten gab es auch heftige Auseinandersetzungen und “The Good Birth Guide (1979) führt zum Zerwürfnis mit dem NCT.

Photo by Katrin Bongard

Hebamme Silvia nach unserer Hausgeburt.

Das alles wusste ich nicht, als ich mich auf mein drittes Kind und die zweite Hausgeburt vorbereitete. Diese Schwangerschaft war anders. Ich war 35 und man legte mir nah, einen Super-Ultraschall zu machen. Ich war nicht besonders begeistert, aber meine Frauenärztin machte mir – und das soll kein Vorwurf sein – Angst. Die Untersuchung ergab dann eine Anomalie, nur eine Arterie in der Nabelschnur. Und ich bekam – richtig Angst.

Sprach das gegen eine weitere Hausgeburt? Keine Ahnung. Ich las, was ich finden konnte, aber auch Kitzinger konnte hier nicht weiterhelfen. Panik an allen Fronten, auch beim Vater. Und dann kam Ruhe. In dem Moment, als wir auf uns hörten und – auch wenn das sehr pathetisch klingt – das Kind.

Wir entschieden uns zuerst einmal geben eine Fruchtwasseruntersuchung, da diese Anomalie auch mit dem Downsyndrom zusammenhängen kann. Nicht aus Ignoranz, sondern weil wir das Kind wollten. Auch wenn es benachteiligt sein würde. Und dann für eine Offenheit, allen Möglichkeiten der Geburt gegenüber.

Der nächste Schritt

Du hast eine Überzeugung, dann machen “sie” dir Angst und du kehrst zurück in den Schutz der Normalität. Okay, schon verstanden, Hausgeburt kann nicht die Norm sein. Nicht, wenn du mit einer Anomalie startest. Stimmt das? Das Private ist politisch …

Doch da war noch etwas. Da gab es diese leichte Hybris von mir, dass es doch ganz einfach ist, ein Kind in der heutigen Gesellschaft zuhause zur Welt zu bringen. Und hier lag ich falsch, denn das ist es nicht. Sobald man sich für eine Hausgeburt entscheidet, tauchen sie auf, die Zweifler und Angstmacher, die Bedenkenträger und auch die Krankenkassen, die lieber mehr bezahlen, wenn man ins Krankenaus geht. Ernsthaft? All das spürte ich bei dieser dritten Schwangerschaft überdeutlich. Sollte ich mein drittes Kind zuhause zur Welt bringen? Für den nächsten Schritt gab es keine Mentorin. Ich musste mich nur auf mich verlassen. So wie Kitzinger vor ihrer ersten Geburt.

“With only a choice between a local Jewish hospital or a Catholic one, she decided to give birth in the more familiar surroundings of her home. While other people in their social circle thought she was acting like a “primitive woman” or a “peasant in the fields” she recalled that when her contractions started she revelled in the feeling of knowing exactly what to do.” (Quelle)

Photo by Uwe Carow

Hausgeburt mit Amber

Ich hatte die gleiche Hebamme wie bei meinem zweiten Kind. Sie hatte keine Bedenken gegen eine Hausgeburt. Die Schwangerschaft verlief wunderbar. Ich machte wieder Sport, fuhr Rad, wir renovierten unsere neue Wohnung. Als erstes das Kinderzimmer, dann das Schlafzimmer. Ich hatte das Gefühl, hier kann ich entbinden.

Und hier kam dann unser drittes Kind zur Welt. In einer Hausgeburt. Die älteren Kinder waren bei meiner Mutter und kamen am Morgen dazu.

Ich hatte in den letzten Schwangerschaftsmonaten keine Angst mehr. Aber ich verstehe jetzt besser, was Angst ist, und warum Mütter in ein Krankenhaus gehen. Und ich kann Sheila Kitzinger nicht genug für den Mut danken, den sie mir und anderen Frauen gemacht hat, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und es auf die eigenen Art und Weise zu machen: Schwangerschaft, Geburt und alles, was danach kommt.

Kunst und Kinder

Drei von Sheila Kitzinger Töchtern sind lesbisch,. Eine wurde deswegen vom College verwiesen und Kitzinger war auch hier sofort kämpferisch und stellte sich hinter ihre Tochter. Sie war eine leidenschaftliche Befürworterin der gleichgeschlechtlichen Ehe.

Ich habe auch nach den Geburten weiter Sheila Kitzinger gelesen, denn auch ihre Ratschläge über das Stillen und das Umgehen mit Schwangerschaftsdepression, Partnerschaft und Eifersucht oder die Zeit nach der Geburt sind extrem erfrischend. Genauso wie ihre Erziehungsratschläge.

“I always took the approach that children should have a lot of space to experiment, play, interact and learn from each other. I had five maxims for a happy life with five children: Mattresses are for bouncing. Water is for pouring. Sand is for scattering. Walls are for drawing. Paper is for cutting.” (Sheila Kitzinger/Quelle)

Wenn ich an Sheila Kitzinger denke, dann denke ich #mutig

Wenn ihr wollt, könnt ihr einen Zusatz-Podcast von mir zum Blogbeitrag im Literaturradio Hörbahn hören. Viel Spaß dabei.

https://literaturradiohoerbahn.com/33-frauen-sheila-kitzinger-portrait-von-katrin-bongard/

33 Frauen

33 Frauen – #3 Anaïs Nin

3. August 2020
Anaïs Nin

33 Frauen, die mich sehr inspiriert haben (Projekt #33frauen) und eine davon ist Anaïs Nin. Anaïs Nin oder genauer: Angela Anaïs Juana Antolina Rosa Edelmira Nin y Culmell. Nin war Schriftstellerin und noch so viel mehr. 1903 geboren, war sie in den 20er Jahren in ihren Zwanzigern und hat für mich all das verkörpert, was man mit den Roaring Twenties (den Goldenen Zwanzigern) verbindet. Eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, eine Blütezeit der Kunst, Wissenschaft und Kultur. Eine Zeit, die 1929 in eine Weltwirtschaftskrise lief, die mit dem Börsencrash in New York begann und in vielen europäischen Ländern bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 anhielt.

Anaïs Nin

Die Goldenen Zwanziger – eine Art Zwischenzeit. Zwischen zwei Weltkriegen, ein Aufatmen nach dem ersten Weltkrieg (1914-19) oder vielleicht doch eher ein kurzes Aufbäumen vor dem Zweiten Weltkrieg. Wie Bäume vor dem Absterben noch einmal ganz stark ausschlagen und blühen. Frech, überbordend, frei, verrückt.

Eine Zeit, in der meine etwa gleichaltrigen Omas heirateten und ihre Kinder (meine Eltern) bekamen. No judgment. Anaïs Nin hatte nie Kinder, erkrankte 1974 an Gebärmutterhalskrebs und starb 1977 daran. Ich erwähne das hier, weil ihre Weiblichkeit und Sexualität ihr ganzes Leben bestimmt haben, sie überbordend und ausschweifend war und diese Krankheit – passte. Ohne Wertung und schon gar nicht als Bestrafung zu sehen, aber ein letzter Fanfarenstoß. Sterben an etwas, an dem nur eine Frau sterben kann. Dah!

Die Tagebücher

Ich habe Anaïs Nin in meinen Zwanzigern kennengelernt. Und zwar durch ihr bekanntestes Werk, ihre “Tagebücher”. Und war fasziniert. Das war eine neue Form von Tagebuch, roh, echt, ehrlich und gleichzeitig vollständig künstlich-künstlerisch. Nin schreibt über ihre Gefühle, Gedanken, aber achtet auf eine gute Form, verwandelt und präzisiert. Man kann ihr beim Schreiben, beim Finden der Gedanken zusehen, mein kann lernen wie Schreiben, wie Leben geht.

Ich hatte mit neun Jahren auf Vorschlag meines Vaters selbst angefangen, Tagebuch zu schreiben. Das wird später sehr wichtig für dich sein, sagte er. Oder so ähnlich. Natürlich wollte ich alles machen, was später und auch sofort für mich wichtig sein könnte, also schrieb ich. Tagebuch schreiben wurde zu einem wichtigen Teil meines Lebens.

Mit sechzehn vernichtete ich alles kindlichen Tagebücher, die eigentlich nur voller Listen waren. Zur Schule gegangen//Hamsterkäfig sauber gemacht//gespielt. Heute würde mich rasend interessieren, wie mein Alltag mit neun ausgesehen hat, damals fand ich es beschämend langweilig und banal.

Tägliches Schreiben

Ja, was sind Tagebücher überhaupt? Das kennt man ja, dass man immer zum Tagebuch greift, wenn man frustriert ist oder Liebeskummer hat. Es ersetzt die fehlende Gesprächspartner*in. Nicht so bei Anaïs Nin. Ihre Tagebücher sind sorgfältig verarbeitete Erinnerungen, die sich aber anfühlten wie aus dem Moment verfasst. Aus der Stimmung heraus geschrieben. Da ahnte man das Leben. Voller Musik, Kunst, Literatur. Intellektuellen Gesprächen und Gedanken. Aber auch ungeschönt, hart, wild. Man macht Fehler, man verliert die Dramaturgie, man baut Mist, man rappelt sich wieder auf.

Anaïs Nin

Mitte Zwanzig interessierte mich Literatur//Kunst und ich war mir ganz sicher, gute, interessante Kunst kann nur machen, wer Lebenserfahrungen hat. All das, was ich nicht hatte, aber unbedingt haben wollte. Mich interessierte das Leben. Mich interessierte, was das Leben mit einem macht.

Künstlerin sein, heißt das Leben aufsaugen, sich schmutzig zu machen, eintauchen in alles Fleischliche und Theoretische. Alles ansehen, alles verarbeiten, und dann auf Papier oder die Leinwand bringen. All das fand ich bei Anaïs Nin.

Kindheit

Anaïs Nina Leben ist vollgepackt mit Erfahrungen, mit Schicksalsschlägen, mit Kunst und Schreiben, mit Liebe und Sex. Die Eltern Künstler, der Vater Pianist, die Mutter Sängerin, trennten sich als Nin zwei war. Sie wuchs in New York auf, verließ die römisch-katholische Kirche und die Schule mit sechzehn und verdiente sich ihr Geld als Künstlermodell. Mutig, trotzig, und offenbar ohne den Filter: Geht das? Darf man das?

Was später herauskam, als alle Tagebücher hervorgeholt wurden: Mit neun – so sagt Nin in ihrem Tagebuchband Inzest  – vom Vater missbraucht. Dass aufschreiben zu können – ist unglaublich. Ebenso schwierig zu verstehen, was es mit ihr gemacht hat.

Doch von ihrer Kindheit, den frühen Tagebüchern, wusste ich damals nichts. Die Tagebücher, die ich las, waren die bei DTV erschienen Taschenbücher, stark redigiert und zensiert. Das hieß, dass etliche Personen nicht genannt wurden wie zum Beispiel ihr Ehemann, ein Bankier, den Nin mit zwanzig heiratete. Erst 1992 erschienen die unzensierten Tagebücher, doch da war ich an einem anderen Punkt in meinem Leben.

Mit war klar, dass die Tagebücher zensiert waren, und auch ohne Wikipedia war es bekannt, dass ihr Mann nicht genannt werden wollte. Beim Lesen hatte ich oft den Eindruck, dass er die Position eines Vaters einnimmt. Abwesend, doch ein Versorger und Beschützer im Hintergrund, den Nin offensichtlich betrog und hinterging und belog, den sie aber ohne Probleme als Sicherheitsnetz nutzen konnte.

Dieser Widerspruch – totale Offenheit und gleichzeitig ein seltsames Verhältnis zur Wahrheit – hat mich fasziniert und beschäftigt. Was mir klar wurde: Ein Tagebuch braucht die Wahrheit – die Kunst/Literatur nicht.

“I tell so many lies I have to write them down and keep them in the lie box so I can keep them straight.” (National Public Radio (NPR). July 29, 2006. Retrieved February 16, 2011.)

Schreiben und Psychologie

Nach der Schule wollte ich Psychologie studieren, doch rückblickend wollte ich gar nicht die Theorie, ich wollte die Praxis. Ich wollte ein Leben, so bunt und grausam wie das von Anaïs Nin. Doch das Interesse an der Psychologie oder vielleicht genauer gesagt an Menschen, blieb und das fand ich auch in Nins Tagebüchern. Nin studierte Psychologie, intensiv und auf ihre eigene Weise. Sie ging in Psychotherapie, ließe sich erst 1932 von René Allendy “behandeln”, später von Otto Rank. Nach eigenen Aussagen wurden beide ihre Liebhaber.

Anais Nin und George Leite im Daliel’s Bookstore, Berkeley, 1946

Ich habe etwa zehn Menschen in meinem Leben getroffen, die sich einer Psychotherapie oder Analyse unterzogen haben und drei davon sind eine kurze oder auch sehr tiefe und lange sexuelle Beziehung zu ihren Therapeuten eingegangen, also denke ich, es ist naheliegend und nicht nur typisch für Anaïs Nin, deren Interesse an Menschen sich sehr oft in eine Liebesbeziehung verwandelte. Mir zeigte es vor allem, dass Pysche und Körper sehr eng miteinander verwoben sind und sich eben nicht alles über den Kopf klären kann. (Wovon ich bis zu meiner Pubertät eigentlich ausging.)

Ich selbst habe mich bei meiner ersten Psychotherapie (mit +-27) allerdings mit Vorbedacht für eine sehr viel ältere und weibliche Therapeutin entschieden.

Kunst und Psychologie

Die Psychologie und besonders Rank halfen Nin nach eigenen Aussagen besonders in ihrer künstlerischen Entwicklung und ihrem Schreibprozess.

“As he talked, I thought of my difficulties with writing, my struggles to articulate feelings not easily expressed. Of my struggles to find a language for intuition, feeling, instincts which are, in themselves, elusive, subtle, and wordless.” Nin, Anaïs (1966). The Diary of Anaïs Nin (1931-1934). 1. Harcourt, Brace & World. S. 279)

Bei Kriegsbeginn verließ Nin Frankreich und ging nach New York, wo Otto Rank auch gerade angekommen war und zog zu ihm in sein Appartement. Dort arbeitete sie selbst als Psychologin. Und genauso selbstverständlich, wie sie Sex mit Rank hatte, wurden ihre Patienten ihre Liebhaber. Sex als Mittel zur Selbstfindung? Oder Machtausübung? Oder einfach Schwäche? Aber auf jeden Fall als wichtiger Bestandteil des künstlerischen Lebens.

Nach einigen Monaten gab sie ihren selbsterfunden Job aber wieder auf:

 “I found that I wasn’t good because I wasn’t objective. I was haunted by my patients. – I wanted to intercede.” (The New York Times. Retrieved September 1, 2017)

Mich beeindruckte, dass und wie Nin sich alles nahm, was sie brauchte. Ohne zu fragen, ob das okay war, gerecht, anständig. Ohne auf etwas anders zu achten, als sich selbst. Da war ich zwar anderer Meinung oder auch anders erzogen, aber die Faszination blieb und die Erkenntnis: Ohne einen gewissen Egoismus wird man keine gute Künstlerin.

Anaïs Nin und Henry Miller

Ich bin nicht nur ein Anaïs Nin, sondern auch ein Henry Miller Fan, dessen Bücher ich zum gleichen Zeitpunkt gelesen habe. Vielleicht bin ich auf Henry Miller auch nur über Nin gestossen, was ich jetzt nicht mehr so genau nachvollziehen kann.

Anaïs Nin und Henry Miller

Als Anaïs Nin 1931 auf Miller traf, war sie eine  achtundzwanzigjährige verheiratete Frau und Miller – ebenfalls verheiratet – stand kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag. Er war in zweiter Ehe mit June verheiratet, mit der er eine leidenschaftliche und selbstzerstörerische Ehe führte. Heute würde man die Beziehung vermutlich toxisch nennen.

Nin und Miller glichen sich in der Art, ihren Lebenshunger auf eine gnadenlose, rücksichtslose und kompromisslose Art auszuleben. Beide hatten viel Sex und konnten sehr gut darüber schreiben. Ich spürte, es kam alles aus dem Unterleib, es war nicht verkopft, obwohl beide sehr intelligent waren und viel miteinander diskutiert haben. Überhaupt – guter Sex und Intelligenz sind keine Gegensätze.

Sex und Schreiben

Nin is hailed by many critics as one of the finest writers of female erotica. She was one of the first women known to explore fully the realm of erotic writing, and certainly the first prominent woman in the modern West known to write erotica. Before her, erotica acknowledged to be written by women was rare, with a few notable exceptions, such as the work of Kate Chopin. (Quelle)

Ich habe Nins erotische Bücher “Deltas der Venus” etc nie gelesen. Nach eigener Aussage( in ihren Tagebüchern) waren es Texte, die sie gleich nach ihrer Ankunft in Amerika für reiche Auftraggeber schrieb, um Geld zu verdienen. Mein Interesse daran ist gleich null. Genauso, wie Sex mit Menschen, die dafür bezahlen etwas anders ist, als Sex mit einem geliebten oder zumindest anziehenden Menschen, sind Auftragstexte  – immer etwas leblos.

Nin hatte ein Verhältnis mit Miller, aber auch eines mit seiner Frau June. Anziehung ist unabhängig vom Geschlecht und die große Liebe reißt alles mit sich. Was Nin über ihre Beziehung zu Miller schrieb, konnte ich sehr gut nachvollziehen. In diesem Fall waren Liebe und Leidenschaft zusätzlich mit einer großen Passion für die Kunst verbunden, dem Schreiben. Ich konnte oder wollte hier auch nie eine Trennung haben. Wen ich liebe, der musste auch die Kunst mit mir teilen. Dass diese doppelte Leidenschaft Opfer kosten würde, wurde mir erst später klar.

You carry your vision, and I mine, and they have mingled. If at moments I see the world as you see it, you will sometimes see it as I do.” (Anais Nin to Henry Miller. A Literate Passion: Letters of Anaïs Nin and Henry Miller, 1932-1953)

Nin vermutet, dass sie 1934 von Miller schwanger wurde, das Kind trieb sie ab.

Leidenschaftliches Schreiben

Anaïs Nin

Ich habe schon vor der Schule lesen gelernt und habe früh angefangen, eigene Texte zu schreiben, Versuche. Schreiben hat für mich bis heute mehr mit Emotionen zu tun als mit Verstand. Das heißt nicht, dass diese Texte unintelligent, schwülstig, kitschig oder hochemotional sein müssen.

Es geht darum, die gespürten Emotionen herauszulassen, sie im ersten Entwurf roh und wild stehenzulassen und später mit dem Intellekt zu prüfen, ob das Geschriebene stimmig ist. Das war nichts, was man in der Schule beigebracht bekam. Sich für das Schreiben in sich  selbst hineinzustürzen, war nur im Tagebuch “erlaubt” und damit auch gleich schon entwertet und wurde auch gerne als “weiblich” bezeichnet.

Von Anïs Nin habe ich gelernt, das Intellekt und Emotion eine sehr enge Verbindung brauchen, damit gute, interessante, künstlerische Texte//Kunst entstehen können. Und, dass wer nichts erlebt hat, auch nichts Relevantes zu schreiben hat.

Heute ist mein Blick auf ihr Leben anders, aber der Respekt ist geblieben. Ihr scharfer Verstand und ihre Unerbittlichkeit beim Schreiben beeindrucken mich bis heute, auch wenn ich sie nicht mehr um ihr Leben beneide. Von ihr konnte ich auch lernen: Es geht viel, aber nicht alles. Wenn ich an Anaïs Nin denke, dann denke ich #hungrig.

Podcast

Es gibt eine Podcastreihe zu den 33Frauen auf dem Literatur Radio Hörbahn. Jeder Blogbeitrag wird um einen Podcast ergänzt.

https://literaturradiohoerbahn.com/33-frauen-anais-nin-portrait-von-katrin-bongard/

33 Frauen

33 Frauen #2 Rosemarie Trockel

9. Juli 2020

Rosemarie Trockel

Rosemarie Trockel 2010 © Curtis Andrerson

Die zweite Frau, die mich als Frau/Mutter/und Künstlerin (mehr über mein Projekt), enorm beeinflusst hat, ist Rosemarie Trockel – eine Künstlerin.

Die erste Arbeit, die ich von ihr in den 80er Jahren gesehen habe, war nicht etwa eine ihrer Strickarbeiten, für die sie sehr bekannt ist, sondern ein Wandobjekt. Kochplatten – schwarz – eingebettet in eine emaillierte Holzplatte, an die Wand gehängt. Wow.

Da war sie. Kunst von einer Frau, die ganz offen und ohne Männern nachzueifern, ein Frauenthema zum Thema ihrer Arbeiten machte. Keine Hausfrau, eine Künstlerin. Erfolgreich. Und trotzdem mit Blick auf den Ort, wo man die Frau traditionell immer noch sieht. Am Herd. Da hat sich bis heute viel geändert, aber immer noch nicht genug, wie  die sich in der Corona-Krise gezeigt hat.

Die Kochplatten-Arbeiten hat Trockel in Variationen bis in die Neunziger wiederholt. Mal waren es weiße Skulpturen (auch mit Platten an den Seiten), mal Wandobjekte. Keine einzelne Arbeit, sondern ein wiederholtes Statement.

Rosemarie Trockel Ohne Titel 1991

So könnte Kunst aussehen, die mich interessiert, dachte ich damals, weil sie das Thema Frausein direkt adressierte. Ich kannte bis zu diesem Zeitpunkt nur Kunst von Frauen, die versuchten, Männern nachzueifern oder sich stark biografisch an ihrem Selbstbild abarbeiteten. Als Frau, als Mutter.

Gute Kunst von Frauen wurde gerne mit dem Zusatz: Könnte auch von einem Mann sein – geadelt. Kochplatten an der Wand – konnten nicht von einem Mann sein und das gefiel mir. Genau das wollte ich machen. Nicht nur mich als Frau in den Fokus meiner Arbeit stellen, sondern das Frausein in der Gesellschaft reflektierend künstlerisch bearbeiten.

Und da hingen sie nun, zwei Kochplatten, minimalistisch, schwarz-weiß, reduziert, eine schlichte moderne Skulptur, eine Provokation. Yay!

Strickbilder

Als Kind habe ich leidenschaftlich gebastelt und jeden erreichbaren Bastelkurs besucht. Die 70er waren sowieso eine Bastel-Aera: Stricken, häkeln, weben, flechten, Emaillearbeiten, FIMO zu Aschenbechern kneten, Töpfern, Glasbilder aus Perlen, die man im Ofen (toxisch, wie mir gerade klar wird) zusammenschmolz. Die Do-it-yourself-Bewegung in ihren Anfängen. Hobby-Kunst?

© VG Bild-Kunst, Bonn 2014; Foto © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Foto: ONUK

Rosemarie Trockel gestrickte Bilder 2005 auf der Art Cologne

Die in diesen Hobbykursen verwendeten Materialien waren nichts für “echte” Künstler*innen. Really? Ich sah das anders. Bloß, weil mit diesen Materialien hauptsächlich in Hobbykursen gearbeitet wurde, waren sie für mich nicht wertlos. Im Gegenteil. Und nun kam Rosemarie und zeigte mir: Yes, ich bin bei dir. Wir stellen diese ganze selbstgefällige Männerkunst auf den Kopf. Offen feministisch. In der Kunstwelt der 80er Jahre. Feministisch an einer Stelle, an der Weiblichkeit definitiv noch nicht angekommen war und vielleicht auch noch nicht angekommen ist.

Rosemarie Trockel Umtitelt 1985/88

Rosemarie Trockel verwendet Wolle und Stricktechniken und baut Haushaltsgegenstände in ihre Installationen ein. Sie hat an der Strickmaschine hergestellte Wandbilder mit provokanten Strickmustern wie dem Playboy-Bunny ausgestellt. Da ging es nicht nur um den Widerspruch von großem künstlerischen Wandbild und harmlosen Material. Sondern auch um den inhaltlichen Widerspruch von bravem Stricken – zu provokantem Inhalt. Das Trockel-Strickbild – ist Politik und Gesellschaftskritik, gebrochen/gesteigert durch den Gebrauch von scheinbar harmlosen Materialien und Techniken.

Frauenbewegung – die zweite Welle

Die Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre wird auch die zweite Welle der Frauenbewegung genannt.

Der Auslöser der zweiten Welle der Frauenbewegung war ein allgemeiner gesellschaftlicher Umbruch und Wertewandel nach dem Golden Age of Marriage der 1950er und 1960er Jahre. (Wiki)

Diese Frauenbewegung hat meine Mutter, Tanten und deren Freundinnen beeinflusst und war zum Teil sehr kämpferisch. Es ging um mehr Rechte für Frauen, das Recht auf den eigenen Körper und Abtreibung, aber auch um die eigenen Erfahrungen mit Missbrauch oder/und Vergewaltigung.
Die besonderen Merkmale dieser Frauenbewegung waren, dass sie sich stark an den Protestformen anderer sozialen Bewegungen abarbeitete: Demonstrationen, bürgerlicher Ungehorsam, Kampfansagen, Verweigerung, Bildung von eigenen Organen (wie Frauenhäusern). Historisch wichtig, allerdings waren diese Protestformen weiterhin stark an männlichen orientiert. Die Frau muss um ihre Rechte kämpfen, muss Widerstand leisten, muss laut werden, um gehört zu werden.

Rosemarie Trockel Ohne Titel 1988

Dass dies sehr männlichen Formen des Protests oder der Meinungsäußerung waren, fällt mir im Rückblick überdeutlich auf. Schon als Kind befand ich mich in dem Konflikt, Kleider und hohe Schuhe großartig zu finden, die Inhalte der Frauenbewegung aber ebenso einsichtig und richtig. Ich sah nicht ein, warum die frauenbewegte emanzipierte Frau der 70er unbedingt Jeans und flache Schuhe tragen musste, um ernstgenommen zu werden.

Für die meisten Frauen meiner Kindheit und in meinem Umfeld waren hohe Schuhe und Emanzipation Gegensätze, die Barbiepuppe ein Feindbild. Zu der komme ich später noch, doch diesen Widerspruch fand ich ungerecht. Wir Frauen müssen uns wie Männer benehmen, um als Frauen ernstgenommen zu werden? Was ist mit unseren Qualitäten, Bedürfnissen? Ich liebte es, fünfjährig in den Pumps meiner Mutter herumzuspazieren (meine Brüder übrigens auch). Das war Power. Und ganz sicher wollte ich zu diesem Zeitpunkt keinen Mann damit beeindrucken.

Karriere ohne Festlegung

Rosemarie Trockel hat mich auch deshalb so stark inspiriert, weil man sie nach den Herdplatten-Arbeiten und Strickbilder einfach in die Schublade einer feministischen Künstlerin hätte stecken können, wenn sie so weitergemacht hätte. Aber – nope. Ihre ersten Einzelausstellungen in Köln und Bonn hatte sie Anfang der 80er Jahre. Eine Ausstellung, die sie schnell in den internationalen Kunstbetrieb aufsteigen ließ, in dem sie bis heute eine maßgebliche Rolle spielt.

Ich erinnere mich an diese Einzelausstellung, die ich besucht habe, und hier besonders an eine Arbeit auf Papier. Trockel hatte einen Wattebausch auf einen Fotokopierer gelegt (Fotokopierer waren in den 80ern modernste Technik) und auf Papier kopiert. Ich war hingerissen und empört zugleich, eine Reaktion, die für mich immer sehr inspirierend ist. Zu einfach? Frech? Banal? Überbewertet? Ich habe mich für frech oder vielleicht besser: unverschämt entschieden.

Rosemarie Trockel Werk und Kunst verweigert sich der Einordnung. Damit geht sie einen Schritt weiter, ist nicht “nur” weiblich-feministische Künstlerin, sondern vor allem MENSCH. Ich bin ich – geht niemanden so leicht über die Lippen. Dieses Statement kommt allzu leicht arrogant oder selbstgefällig rüber. So sehen viele Feministinnen die Männer und auf keinen Fall sich selbst. Doch das Ichbinich ist wichtig. Nicht das aufgeblasene selbstherrliche Ichbinich, sondern das Erkennen der eigenen Kraft und Fähigkeit, Kreativität und Genialität.

Kunst und Kunstgeschichte

Wer sich mit Kunst beschäftigt, Kunst macht, kommt um Kunstgeschichte nicht herum. Vor allem dann, wenn man sich fragt, warum so viel mehr Männer den Kunstmarkt beherrschen. In den 80/90er Jahren habe ich Kunstgeschichte studiert und mich in einer Zeit vor dem Internet hauptsächlich in der Bibliothek aufgehalten. Biografien von Künstlerinnen waren selten, meist musste man Künstlerinnenschicksale zwischen den Zeilen lesen. Als Anhängsel von Männerbiografien, Muse oder Model. Und natürlich fand man Frauen haufenweise auf Bildern. Aber … nun.

Rosemarie Trockel – a lady at her toilet – Installation von 1991

Die Installation von Rosemarie Trockel von 1991 “a lady at her toilet” ist eine Auseinandersetzung mit einer Zeit der Kunst, in der man Frauen aus dem Kunstbetrieb verwiesen hat, sie aber gerne malerisch “ausbeutete.”

1 Zeltboden, 4 Metallleisten, 2 Metallstangen, 1 Klapphocker aus Holz mit Stoffbespannung, Diaprojektor, 80 Dias, 7 gerahmte Reproduktionen alter Graphiken

Die Frau in der Kunst

Gibt man den Titel der Installation – a lady at her toilet – in die Internetsuche ein, stösst man auf viele, vor allem barocke Gemälde nackter oder wenig bekleideter Frauen von männlichen Malern. Oh ja, das war eine Form der Pornografie, ein Ausstellen von weiblicher Nacktheit zur Freunde der Kunstkäufer. Und wenn der Künstler-Mann es zu Berühmtheit gebracht hat, dann hängen die Bilder heute in einem Museum. Frauen, die sich schön machen, sich herausputzen für die Nacht oder den Tag, für … den Mann. Hier und so finden Frauen ihren Platz auf Gemälden. Nett, oder? Nichts dabei, oder? Wenn man sich in das Zelt von Trockel setzt, kann man diese Bilder betrachten:

“Die Abbildungen unterscheiden sich hinsichtlich der Malweise, der gewählten Ausschnitte und der Entstehungszeit – jedoch zeigen sie immer ähnliche Motive: Leicht bekleidete oder nackte Frauen im Badezimmer, die sich an- oder ausziehen, sich waschen oder baden, ihr Haar kämmen oder sich im Spiegel betrachten. Die Frauen werden allein oder mit einer Dienerin gezeigt. Manchmal ist auch ein Mann in der Rolle eines Voyeurs oder Freiers im Hintergrund erkennbar. Treten die BesucherInnen in den Zeltinnenraum, nehmen sie bei der Betrachtung des Werkes eine ähnliche voyeuristische Perspektive ein.” (ZMK Karlsruhe)

Kunstbetrieb

Rosemarie Trockel verteilt Schläge in alle Richtungen. Provokant, aber niemals verkniffen. Irgendwie ist immer Humor dabei, manchmal sehr trocken und schwarz.

Rosemarie Trockel – Balaklava 1986

Der Kunstbetrieb ist an manchen Stellen eigen und filzig wie viele elitäre Kreise. Das habe ich auch in den 80ern gelernt, als ich ein Praktikum bei meinem Onkel in Köln machte. Willi Bongard (der jünger Bruder meines Vaters), hatte sich zur Aufgabe gemacht, Künstler in ein wirtschaftliches Bewertungssystem zu stecken und es Kunstkompass getauft.

Den Kunstkompass hat er in den 70er Jahren erfunden und anfänglich als kleines Aboblatt betrieben. Das waren sehr gut recherchierte Informationen über Ausstellungen und Auftritte, an denen Künster*innen teilnahmen, sowie eine Nachverfolgung, welche Presse und Preise sie bekamen. Kunstsammler konnten ihre Kunstkäufe mit dieser Hilfe besser einschätzen.

Der Kunstkompass erschien jährlich in verschiedenen Wirtschaftszeitungen und hauptsächlich in der Capital. Nachdem mein Onkel 1985, kurz nach meinem Praktikum, tödlich mit seinem Wagen verunglückte, übernahm seine Lebensgefährtin Linde Rohr-Bongard, eine Journalistin und Künstlerin, den Kunstkompass.

Kunst und Kommerz

Von 2013 bis 2017 wurde das Ranking im Kunstkompass unverändert von Gerhard Richter, Bruce Nauman und Rosemarie Trockel angeführt. Ich bin nicht unbedingt begeistert von der Vorstellung, Künstler wie Sportler in ein Bewertungssystem zu zwängen. Ich hätte – ganz ehrlich – auch nicht gedacht, dass Trockel sich so gut in diesem System schlagen würde. 1986 tauchte sie jedenfalls noch nicht unter den ersten 100 Künstlern des Kunstkompass auf.

Kunst ist Kommerz (so hieß auch ein Buch, das mein Onkel 1967 veröffentlichte). Bei meinem Praktikum hat er mir zudem Einblicke in das Verflechtung von Künstler*innen, Galerist*innen und Kunstmarkt gegeben. Er erzählte mir zum Beispiel, dass Julian Schnabel bei ihm (und überall sonst, wo man sich zu der Zeit bekannt machen konnte) gesessen hätte und gesagt hätte, er würde mal ganz groß werden. Nun, da hat er wohl recht gehabt. Könnte man sich an dieser Stelle eine Frau vorstellen? Wohl eher nicht.

Dass Männer ihre Künstlerkarriere aggressiv und machohaft betreiben, unterstrich mein Onkel und schockte mich zudem mit Geschichten, wer sich im Kunstbetrieb alles hochgeschlafen hatte. Ich war eine Künstlerin in den Anfängen und fragte mich, besonders, nachdem er verunglückte, ob das eine sehr negative oder eher eine realistische Sicht auf den Kunstbetrieb sei. Damals war seine Sicht für mich hauptsächlich verstörend. Ebenso wie sein mysteriöser Tod. Auf freier Strecke von der Straße abgekommen und an einen Baum gefahren – aber das ist eine andere Geschichte.

Documenta

Wie sehe ich den Kunstbetrieb? Warum tue ich mich so schwer mit den Mechanismen der Macht in diesem Bereich? Auch bei dieser Frage half mir Trockel viele Jahre später mit einem Kunstwerk. Als mittlerweile sehr erfolgreiche Frau im Kunstbetrieb, nahm sie 1997 an der Documenta X teil.

 

Zusammen mit dem Künstler Carsten Höller war ihr Beitrag zur Documenta das “Haus für Schweine und Menschen” im Teepavillon.

“Der Teil für die Menschen war ausgesprochen karg gehalten, noch dazu fensterlos und entsprechend düster. Innen lagen auf einer zur Rückwand hin ansteigenden Schräge Matten für die Besucher. Dort ausgestreckt schaute man auf eine große Glasfront und durch sie hindurch in den Hausteil, den die Schweine bewohnten. Die trennende Glasscheibe war einseitig verspiegelt, so wie man das von Scheiben kennt, die Polizisten bei Gegenüberstellungen verwenden: Die Menschen konnten die Schweine sehen, die Schweine jedoch die Menschen nicht.

Nichts anderes als das sah man auch: Schweine, die sich allein und unbeobachtet wohl fühlten. Säue und Ferkel, die fraßen, schliefen, spielten, vom überdachten Stallteil in einen kleinen Garten und wieder zurück liefen, die zu geregelten Zeiten gefüttert und gepflegt wurden. Die Zuschauer wurden Zeugen eines weitgehend harmonischen, wenig spektakulären, dafür fröhlichen Schweinelebens. Kurz: Glücklichere Schweine als diese berühmt gewordenen Kunstschweine sieht man in Deutschland wohl selten.” (Dieter Schwerdtle in der Zeit)

Tiere spielen immer wieder eine Rolle in Trockel Werk. 1993 veröffentlichte sie ein Buch mit dem Titel: „Jedes Tier ist eine Künstlerin“. Eine ironische Anspielung auf die Aussage von Josef Beuys: „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Dass Beuys Tiere und Frauen  – unachtsam – ausschloss, machte sie sichtbar.

Dritte Welle des Feminismus

Das “Haus für Schweine und Menschen” hat viele Ebenen, wurde von den Künstlern auf einer Homepage später ausführlich erläutert und hat trotzdem enorme Kritik von Besuchern erfahren. Kein Wunder. Ist das Kunst?, fragen sich Menschen, die die Kunst sehr wohl akzeptieren können, wenn sie sich so benimmt wie Kunst sich benehmen soll: Verortbar. Ästhetisch. Verständlich.

Rosemarie Trockel, Cluster III – Death, so adjustable, 2015

Wir Frauen kennen das Problem, oder? Wir dürfen überall mitmachen, wenn wir uns an die Spielregeln halten. Also? Vielleicht der Grund, warum so viele Frauen heute glauben, wir brauchen den Feminismus nicht mehr.

Wir befinden uns mittlerweile historisch in der dritten Welle des Feminismus. Das Internet spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Für die globale Vernetzung und den Austausch von Inhalten und Erfahrungen. Die Fragen bleiben dieselben: Wer bin ich? Wie vertrete ich meine Ansichten, meine Rechte, meine Wünsche und meine Freiheit. 

Männerwelten

Muss ich wie ein Mann handeln, denken, arbeiten, um in einer von Männern dominierter Welt ernst genommen zur werden?  Männerwelten

Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf haben in ihrer Show “Joko & Klaas gegen ProSieben” ihren Sender  geschlagen und 15 Minuten Live-Sendezeit gewonnen. Auf den Wunsch der beiden Entertainer führte die Autorin und Journalistin Sophie Passmann durch die fingierte Kunstausstellung “Männerwelten”. Thematisiert wurden sexuelle Übergriffe gegen Frauen und Sexismus, den Frauen in ihrem Alltag erleben. (Wer sind Joko und Klaas?)

Rosemarie Trockel: Ohne Titel (Frau ohne Unterleib), 1988

Aha, zwei Männer äußern sich zu Sexismus. Ach, nein, das lassen sie Sophie Passmann machen, die einen langen Rock und flache Schuhe trägt und sich benimmt, als wäre sie eine Ausstellungsführerin. Wie schlau, dass sie keine hohen Schuhe trägt und keinen tiefen Ausschnitt hat.

Wie schlau von Joko und Klaas, dass sie nur Frauen in diesem Special auftreten lassen, denn wer bügelt die Fehler der Männer besser aus als Frauen? Genau. Wie interessant. Joko und Klaas reden in diesen 15 Minuten auch nicht darüber, dass sie in einer Gameshow einer Hostess an den Hintern gefasst haben, sie zeigen auf alle Männer und irgendwie vielleicht auch auf sich selbst.

Es fällt mir schwer davon abzusehen, dass sich hier ganz nebenbei über Kunst und den Ausstellungsbetrieb lustig gemacht wurde, als gäbe es keine Künstler*innen, die sich ernsthaft mit dem Thema Feminismus auseinandersetzen. Als wäre Kunst nur ein Joke.

Heute

Letzte Woche war ich im Hamburger Bahnhof bei einer Einzelausstellung von Katharina Grosse. Eine riesige bunte Farbskulptur, die sich klar im Jetzt verortet. 3D Architektur, 3D Printing. Viel Farbe auf Flächen, auch auf dem Boden, auch im Aussenbereich, der vorher speziell behandelt wurde. Jetzt sind alle Flächen abwaschbar (so werden Gebäude vor  Graffitis geschützt). Aha. Sprayen muss also gar nicht aggressiv sein, alles ist abwaschbar. Da freut man sich? Irgendwie nicht, denn was ist Kunst dann überhaupt? Abwaschbar? Davon abgesehen: No risk – no fun.

Katarina Grosse. “It Wasn’t Us” 2020 Hamburger Bahnhof Berlin

Okay. Groß, laut, ein Spektakel. Nicht meins, aber so ist das eben manchmal mit Kunst. Ich denke nicht: Immerhin von einer Frau. Oder: Cool – von einer Frau. Ich denke: Gefällt es mir? Spricht es mich an? Wie viele Ebenen meiner Existenz, der Gesellschaft und Welt werden durch dieses Kunstwerk in Schwingung gebracht? Passen Form und Inhalt/Botschaft? Verstärkern sie sich? Rechtfertigt die “Botschaft”, das Erlebnis den Aufwand? Den Einsatz von Material und Farbe? Und Manpower

Ich mag bunt. Die Bemalung im Aussenbereich hält leider dem Vergleich mit jeder talentierten, innovativen Sprayer*in nicht stand.

Rundgang

Anschließend gehe ich durch die ständige Ausstellung des Hamburger Bahnhofs. Ein Rundgang. Und da liegen sie. Unspektakulär auf dem Betonboden. Die Gewohnheitstiere von Rosemarie Trockel.

Rosemarie Trockel – Gewohnheitstiere 1996

Beschissen ausgeleuchtet. Sorry. Aber eine Arbeit, die mich sofort wieder und sehr viel mehr berührt, als das Farbspektakel in der Haupthalle. Ich bin wohl immer noch ein Trockel-Fan. Aber nicht, weil ich am Alten festhalte, ein Gewohnheitstier bin, sondern ganz im Gegenteil. Ich mag, wenn Dinge und Ansichten auf den Kopf gestellt werden. Dafür ist Kunst da. Und weil ihre liegenden Tiere immer noch aktuell sind. Uneindeutig. Tod oder lebendig? Haustiere oder wild? Getötet oder gestorben?

Wenn ich an Rosemarie Trockel denke, dann denke ich immer wieder gerne #unverschämt.

Podcast

Es gibt eine Podcastreihe zu den 33Frauen auf dem Literatur Radio Hörbahn. Jeder Blogbeitrag wird um einen Podcast ergänzt. Den Podcast zu diesem Beitrag findest du hier.

33 Frauen Female

33 Frauen #1 Ilse-Charlotte Kaufmann

28. Mai 2020
Ilse-Charlotte Kaufmann

Ilse-Charlotte Kaufmann

Die Blogreihe #33Frauen (mehr dazu) handelt von 33 Frauen, die mich in der Frage wie man Kunst, Kinder, Karriere und eine gute Beziehung harmonisch und glücklich in sein Leben integrieren kann, inspiriert haben. Und ich beginne – mit meiner Mutter, Ilse-Charlotte Kaufmann.

Ich bin ein wenig aufgeregt, da mir klar geworden ist, dass ich vor dieser Blogreihe noch nie so offen, persönlich und öffentlich über mich oder meine Einstellung zum Leben, zu Kunst, Politik und Gesellschaft gesprochen habe. Aber – darum geht es wohl in dieser Blogreihe und ganz allgemein beim Schreiben. Und, dass ich mit meiner Mutter beginne, macht es nicht unbedingt leichter.

Ille

Meine Mutter hat den Namen meines Vaters angenommen, hieß also Bongard. Doch sie wurde von allen nie Ilse-Charlotte, sondern immer nur Ille genannt. Ich will hier trotzdem mit ihrem vollständigen Vornamen und ihrem Geburtsnamen über sie reden, da er für mich die größere Einheit ist. Der Name, der ihr Leben vor der Ehe einschließt. Die jüdischen Wurzeln, ihren künstlerisch begabten Vater.

Ich dachte eigentlich, dass ich diesen Beitrag am besten am Muttertag herausbringe, doch meine Mutter war kein großer Fan des Muttertags. Wahrscheinlich hat sie ihn gehasst. Und damit ist schon viel über sie gesagt. Sie hatte eindeutige Meinungen zu Menschen, Politik, Kunst und Kultur. Und auch zu Institutionen oder Traditionen.

Ich habe mich als Kind oft gewundert, wenn andere (Ehe-)frauen/Mütter keine Meinung hatten. Da kenne ich mich nicht aus. // Da weiß ich nicht Bescheid. //Dazu habe ich keine Meinung. So etwas gab es bei uns nicht und das lag an meiner Mutter. Sie hatte eine Meinung. Überhaupt habe ich erst beim Scheiben dieses Blogbeitrags bemerkt, in wie vielen Aspekten ich von ihr beeinflusst worden bin und was sie mir alles – ganz unauffällig – beigebracht hat.

Die Mutter

Ich will gleich vorweg sagen, dass meine Mutter und ich uns gut verstanden haben, aber auch übelste Auseinandersetzungen hatten. Dies hier ist also keine Hymne auf meine Mutter, sondern das Ergebnis vieler Kämpfe.

Bei einem Streit hat sie mich einmal als Monster bezeichnet und ich würde sagen, sie hat sehr recht gehabt. Wenn ich um mein Selbstwertgefühl, meine Unabhängigkeit und Freiheit kämpfe, werde ich monströs. Sie war da anders. Zarter, weicher, unsicherer. Und gerade damit hat sie mich zu einer Kämpferin gemacht. An ihr musste ich mich abarbeiten. Doch neben diesen Kämpfen und Auseinandersetzungen gab es auch Bereiche, in denen sie mich gar nicht beeinflussen wollte. Das fand ich am spannendsten. Wenn sie etwas gemacht hat, das ich nur beobachtet habe und so lernen konnte. Das war ganz besonders in diesen drei Bereichen der Fall:

  • Literatur
  • Musik
  • Beziehung & Muttersein
Literatur & Lesen

Meine Mutter hat viel gelesen. Vor allem Literatur. Viel Literatur. Keine Schmöker, die kamen überhaupt nicht vor. Aber auch Sach- und Fach- und wissenschaftliche Bücher.

Schreiben war für sie Kunst, und Lesen hieß, Kunst zu wertschätzen. Mit Respekt für eine gute Sprache, für intelligente Gedanken, für tiefgehende Emotionen, für Offenheit und eine Stellungnahme in der Welt. Lesen hieß zu wachsen. Von ihr habe ich gelernt: Ein gutes Buch ist ein Kunstwerk. Die Autor*ìn muss ihr Handwerk beherrschen, doch sie ist hauptsächlich Künstler*in und damit auch erste künstlerische Instanz für ihr Werk..  Ändere bitte dies – weil es sich besser verkauft//uns nicht gefällt//wir es nicht mögen – war für sie undenkbar. Zu einem guten Buch gehört eine Autor*in mit einem starken Rückgrat und einer klaren künstlerischen Vision.

Und das habe ich nicht nur bewundert, sondern sofort verstanden. Wenn die Künstler*in nicht den Mut und die Kraft hat, für ihre Ideen einzustehen – wer dann?

Meine Mutter ist auch diejenige gewesen, die mit mir zur Bibliothek gegangen ist, um mir meinen ersten Bibliotheksausweis ausstellen zu lassen. In die heiligen Hallen. Sie hat mich zur Vielleserin gemacht hat – drei Bücher am Tag.

Durch meiner Mutter habe ich gesehen, dass mit und durch Bücher alles möglich ist. Dass man sich mit dem Wissen und den Erkenntnissen, die in Büchern stecken, die Welt erobern kann.

Ich habe auch mitbekommen, wie sie mit Mitte 40, verspätet ihr Studium beendet und ihre Doktorarbeit geschrieben hat. Immer umgeben von einem Stapel Bücher. Überall Spuren vom Thema. In, durch und mit Büchern kann man alles erreichen. Damit war meine Mutter besser ausgebildet als mein Vater, der seine Doktorarbeit nie beendet hat. Allerdings ist er Professor geworden und sie blieb nur Dozentin. Auch das eine interessante Beobachtung.

Schreiben

Ilse Charlotte-KaufmannEtwas später wurde mir klar, dass meine Mutter nicht nur viel gelesen, sondern auch einmal selbst geschrieben hat. Ich weiß nicht, wann sie mir ihre Gedichte gezeigt hat. Huschig, eigentlich fast im Vorübergehen und mir wurde klar: Es gab ein Leben vor mir. In einer kleinen Studentenbude mit einer Kofferschreibmaschine und der Ambition, irgendwann mal einen Roman zu schreiben.

Und es gab dieses kleine Büchlein mit dem Schloss, das ich jetzt geerbt habe, mit ihren Gedichten. Okay, die kann man also selbst machen. Wie Marmelade einkochen und Pullover stricken. Wie Fahrradreifen flicken und Glühbirnen auswechseln.

Man kann selbst Gedichte schreiben.

Selbst Bücher schreiben. Und das war die größte Ermunterung. Ich wollte nie Schriftstellerin werden. Aber nicht, weil ich es mir nicht zugetraut hätte. Denn der Weg zum Schreiben war immer da, stand immer offen, war möglich.

Oper & Musicals

Alles, was in der Kindheit passiert, nimmt man als normal hin. So ist das eben. Und erst später wird einem klar, dass es anderswo anders ist. Meine Mutter hat Opern geliebt. Regelmäßig wurden Sonntags Opernplatten aufgelegt. Carmen, La Travita, Der Barbier von Sevilla. Oder lyrischer Gesang. Meine Eltern waren beide Musikliebhaber, mein Vater hat Klavier gespielt, mein Mutter fast immer in irgendeinem Chor gesungen. Musik gehörte dazu, doch wurde sie von meiner Mutter besonders zelebriert. Nicht mal eben nebenbei, sondern zur festlichen Stunde. Dann wurde die Platte aufgelegt und zugehört.

Für mich waren Opern gesungene Geschichten. Gesungene Texte auf italienisch oder deutsch. Tragische Geschichten mit großen Emotionen. Vollendeter Gesang. Das war eine erstaunlich andere Seite an meiner Mutter, die doch sonst die Meisterin der Ironie war, einen messerscharfen Verstand hatte und niemals sentimental oder rührselig wurde. Schwarzer Humor, Scharfzüngigkeit. Jane-Austen-like. Manchmal provokant. Aber da gab es eben dieses verletzliche Innenleben, das sich in Musik ausdrückte.

Als meine Mutter und ich einmal zusammen das Musical West Side Story im Fernsehen gesehen haben, war ich vielleicht neun. Und meine Mutter hat geweint. Damals habe ich nicht verstanden, was einen an dieser Geschichte so zu Tränen rühren kann. Aber es hat mich tief beeindruckt, dass ein Musical so tiefe Gefühle bei meiner Mutter, die ich überhaupt nur zwei oder dreimal in meinem Leben habe weinen sehen, auslösen konnte.

Dass Emotionen in Geschichten gehören, sogar unbedingt dazugehören, war nichts, was man mir in der Schule beigebracht hat. Da ging es um Kafka und Sprache und Form. Wie wichtig Emotionen für Geschichten sind, habe ich durch meine Mutter gelernt.

Beziehung, Ehe und Arbeit

Die Beziehung meiner Eltern war gut. Manchmal sehr gut, göttlich, dann auch wieder zerfleischend. Sie haben sich sehr geliebt, Liebe auf den ersten Blick, in Göttingen im Vorlesungsaal, dazu eine starke körperliche Anziehung, ein Sturm. Meine Eltern waren Gegensätze und die Beziehung ein wilder Mix.

Es gab ein intellektuelles Gleichgewicht, doch obwohl meine Eltern geistig und intellektuell ebenbürtig waren, gab es keine Gleichberechtigung. Und das lag weniger an meinem Vater (obwohl der auch ein Macho sein konnte), als an der Gesellschaft, der Situation in den 60er Jahren, an der Struktur von Ehe- und Familienleben.

“Kinder kriegen” war ein Job, den die Frau am besten nebenher erledigte. Unbezahlt, versteht sich. (Erziehungsgeld war damals noch kein Thema und Kindergeld ein Witz). Und wenn die Frau gleichzeitig Karriere machen wollte … dann hatte sie eben zwei Jobs und musste sehen, wie sie das hinkriegte. Mein Vater war Professor, für seine Arbeit zahlte der Staat. Für ihn war es sein Geld, auch wenn er es natürlich in die Ehe gegeben hat. Doch bei einer Scheidung (und davon gab es viel im Umfeld)  … hätte er normal weiter verdient und meine Mutter beruflich bei Null starten müssen. Darüber haben wir oft geredet.

Die gesellschaftliche Ungleichbehandlung von Arbeit für die Gesellschaft in einem Job und Arbeit für die Gesellschaft = Kinder bekommen, war ein Problem, das die Ehe meiner Eltern sehr belastet hat.

Meine Mutter war viel zu schlau, das Hausmütterchen zu spielen und auch viel zu lässig. Mein Vater – gelegentlich sehr akribisch – hätte die Küche mit dem Q-Tip geputzt und in unserer Familie stand alles auf Alarm, wenn er “den Keller aufräumen” ging.  Vielleicht wäre er der bessere Hausmann gewesen, aber der Switch hat bei beiden nie funktioniert.

Es war genial, eine solche Beziehung aus nächster Nähe zu studieren. Okay, als Kind studiert man seine Eltern nicht, man wird hin- und hergerockt. Stellt Fragen, versteht Dinge nicht, wundert sich, ist verwirrt. Und oft stand ich auch genau in der Mitte. “Heirate nie!”// Männer sind … was auch immer. // Deine Mutter macht ihren Job nicht. Ich verdiene das Geld und siewas auch immer.

Meine Mutter hat eigenes Geld verdient, trotz der vier Kindern und einem Haushalt, der ohne männliche Beteiligung bewältigt werden musste. Um vieles hat sie nicht gekämpft, das lag ihr überhaupt nicht. Sie ist aber in eine Frauengruppe gegangen und hat auf ein eigenes Konto bestanden.

Was ich aus all diesen Beobachtungen und Diskussionen gelernt habe: Du musst als Frau unbedingt selbstständig sein. Du musst weiter an deiner Ausbildung arbeiten, auch in der Beziehung/Ehe, auch mit Kindern. Und du brauchst dein eigenes Geld.

Muttersein

Muttertag: Danke, Mama, dass du all das für uns tust! Und nie an dich denkst.

Fuck! Muttertag. Okay, so hätte meine Mutter das nie gesagt. Aber hinter ihrer Stirn, angesichts des Szenarios: Die Kinder übernehmen am Muttertag (gezwungen von deinem Mann) das Frühstück – konnte man es sehen. Muttertag. Bullshit.

Sie hätte gesagt: Ich verzichte auf den Blumenstrauß und die schönen Worte, ich will einen Mann, der kapiert, dass Kinder haben auch sein Job ist. Und, nein, Geld verdienen ist nur ein sehr kleiner Teil davon. Ich will einen Staat, der kapiert, dass es mit Kinder- oder sogar Erziehungsgeld nicht getan ist. Weil man keine mündigen und intelligenten und liebevollen Staatsbürger heranziehen kann, wenn man auf dem Zahnfleisch läuft. Vier Kinder, die ersten drei innerhalb von vier Jahren (auf dem Bild die ersten drei).

Die (Über-)anstrengung meiner Mutter als Mutter in diesem Job, der ja im Grunde gänzlich von der Anerkennung des Partners abhängt und in der Regel in der Pubertät auch noch von den Kindern belächelt wird, habe ich sehr genau registriert. Feminismus passierte für mich dort. Vorort. Nicht in irgendwelchen Seminaren oder Panels, wo Feministinnen Vorträge hielten. Oder halten. Nicht in theoretischen Diskussionen, die vielleicht auch wichtig sind, aber sehr oft an der Realität vorbeigehen. Ich lernte: Hier muss sich etwas ändern. Auch die Frauen selbst, die sich ihrer Macht und Stärke bewusst werden müssen.

Meine Mutter

Meine Mutter war als Mutter: Genial. Das habe ich erst später begriffen. Vorher habe ich die liebevolle gemachten Pausenbrote vermisst. Die herzige Umarmung, wenn ich zur Schule ging, das Dauerlächeln, die Nettigkeit, die anderen Müttern offenbar so leicht fiel.

Erst als diese Familien und Ehen zerbröselten, das größere Bild sichtbar wurde, habe ich begriffen, wie wertvoll ihre Erziehung war. Dass sie mich in Ruhe gelassen hat, mich niemals bewertet, herausgeputzt oder bemuttert hat. Und mich schon gar nix ht heruntergeputzt hat. Dafür hat sie mir etwas sehr Wichtigeres mitgegeben:

Sei so, wie du bist. Bleib so, wie du bist. Kümmere dich nicht um die Menschen, die dich auf Grund von Angst maßregeln oder zurechtweisen wollen. Geh deinen Weg. Mach dein Ding.

Ilse-Charlotte Kaufmann Mutter

#lebendig

Auch, wenn meine Mutter immer gesagt hat, sie hätte nie richtig gelernt, glücklich zu sein, konnte sie leben. Genießen. Gutes Essen und Wein. Mit Käse. Und Reisen und Kunst, Theater, Konzerte. Diskussionen und Gespräche und Bewegung.

Und wenn ich an sie denke, dann denke ich: #lebendig.

Podcast

Es gibt eine Podcastreihe zu den 33Frauen auf dem Literatur Radio Hörbahn. Jeder Blogbeitrag wird um einen Podcast ergänzt. Den Podcast zu diesem Beitrag findest du hier.

IPodcastlse-Charlotte Kaufmann

33 Frauen

33 Frauen #Prolog

14. April 2020
33 Frauen

33 Frauen ist mein Blog-Projekt für 2020 und ich beginne einmal mit einem Prolog, also einem ersten Blogbeitrag mit einer kleinen Vorrede.

Warum 33 Frauen (#33frauen)? Nun das Projekt begann eigentlich schon vor längerer Zeit in meinem Studium (Kunstgeschichte, Theologie und Judaistik). Ich habe das Studium nicht sofort nach der Schule begonnen, sondern erst nachdem ich mich für die Kunst entschieden hatte.

Kunst war Praxis und aufregend, genau wie mein Leben damals. Auch, weil ich zu dieser Zeit mit vielen Menschen zusammengelebt habe, in WGs und Lofts und mit am Ende mit fünf anderen Künstlern (tatsächlich nur Männern) in einem Atelier gearbeitet habe. Ein Studium ist ruhiger und das brauchte ich nach diesem Lebensabschnitt.

Mir fehlte auch die intellektuelle Auseinandersetzung, das Lernen. Ich liebe es zu wachsen und zudem war das Studium die perfekte Möglichkeit, mein Leben ein wenig zu entschleunigen.

Ich habe aus dieser Zeit sehr viel mitgenommen, vor allem theoretisches Wissen. Ich studierte mit Leidenschaft, ich saß auch in den Semesterferien in der Bibliothek und nutzte mein Studium für ein Seitenforschungsprojekt. Ich fragte mich: Wie ist es möglich, als Künstlerin mit Kindern in einer guten Beziehung zu leben und dabei noch finanziell unabhängig zu sein? Wie geht das? Wer hat das schon geschafft?

Kunst & Kinder

Ich habe in dieser Zeit jede Künstlerinnen-Biografie gelesen und alles, was ich über die Heldinnen der modernen Kunst, Schriftstellerinnen und Wissenschaftlerinnen finden konnte. Wie haben die das gemacht? Hinbekommen? Wie haben sie Job und Leidenschaft und Kunst und Familie unter einen Hut gebracht. (Hut? Hm …)

Es gab sehr verschiedene Lebenswege, aber schnell zeichnete sich ab, dass die erfolgreichen Künstlerinnen eher keine oder nur ein Kind hatten (manchmal lebte es beim Vater). Die, die es trotzdem anders versucht haben, mussten irgendwann etwas aufgeben – manchmal sogar ihr Leben.

Ich fand heraus, dass es sehr viele Künstlerbeziehungen gab und gibt, in denen der Mann sehr berühmt war/ist (z.B. Rodin) und die Frau als die Muse angesehen wurde/wird, obwohl  sie eine mindestens ebenso talentierte Künstlerin war/ist. Das war schmerzhaft und lehrreich und eine gute Vorbereitung für mein späteres Leben.

*Zu diesem Zeitpunkt lebte ich in einer sehr freiwilligen Fernbeziehung  zu meinem späteren Partner.

Arbeit & Familie

Kunst und Familie zusammen zu leben, war offensichtlich schwierig. Aber wie sah (und sieht) es mit Kunst=Arbeit und Familie aus? An vielen Stellen meines Lebens musste ich zwischen Kunst und Arbeit/Familie entscheiden und das war schmerzhaft und manchmal auch ungerecht.

Als ich das erste mal schwanger wurde, wollte ich giftige Substanzen (Farben) im Atelier meiden und auch nicht so schwer tragen. Ganz allgemein fehlt mir auch der Antrieb, mich oder etwas von mir zu zeigen. Ein dicker Bauch macht sich auch bei einer Vernissage nicht so wirklich gut. Das meine ich nicht optisch oder modisch, sondern weil nach draußen gehen und ein Nest bauen zwei sehr unterschiedliche Dynamiken sind.

Je mehr ich forschte, desto klarer wurde mir, dass mein Wunsch, Kinder, Karriere und Kunst zusammen hinzubekommen, sehr fordernd werden würde.

Das hängt ganz oft auch mit der Arbeit zusammen, wie wir sie definieren und wie wir glauben, Geld verdienen zu müssen. Manchmal wird Arbeit von alten Vorstellungen dominiert, dabei könnte sie anders sein. Wir erwarten immer noch, dass Menschen an ihrem Arbeitsplatz bleiben, statt zu Hause sein zu dürfen und von dort zu arbeiten. In Zeiten von Internet und Skype sollte das eigentlich selbstverständlich sein. Vieles würde dadurch einfacher und – reden wir Umweltschutz – die Autos müssten auch nicht ständig bewegt werden. Aber das ist dann schon wieder ein anderes Thema.

33 Frauen

33 Frauen Frida_Kahlo,_by_Guillermo_KahloImmer wieder gab es Zeiten, in denen ich nicht wusste, wie ich das alles hinkriegen soll. Und immer gab es Frauen, die mir mit ihrem Leben gezeigt haben, dass es doch gehen kann. Selten in allen Aspekten gleichzeitig. Und sehr oft musste ich mir über den Preis klar werden, den eine Frau für ihr Leben zahlt.

Frida Kahlos Leben zum Beispiel. Mit 18 von einem Bus verletzt und ihr Leben lang mit Schmerzen lebend, nicht mehr in der Lage Kinder zu bekommen, zweimal mit dem gleichen Mann verheiratet, unter dessen Untreue sie litt, dem sie aber auch selbst untreu wurde, Anhängerin von Stalin …

Frida Kahl findet man in jedem Rebel-Girl Buch als schillerndes Vorbild – aber will ich das? Nein. Egal wie berühmt ihre Kunst jetzt sein mag. Für mich lohnt es sich immer, genauer hinzusehen, wenn es um weibliche Vorbilder geht.

Und natürlich – Was für mich gilt, muss für niemanden anderen gelten. Daher verstehe ich meine Auswahl an Vorbild-Frauen als extrem subjektiv.

Zum Schluss: Haben mich auch Männer beeinflusst? Aber ja! Aber nicht unbedingt in Fragen von Schwangerschaft und Kinderkriegen, in Vereinbaren von Haushalt, Arbeit und Kindern oder im Leben von Beziehungen zu Männern. Frauenthemen? Genau.

Lass dir nie von einem Mann sagen, wie du als Frau zu leben hast.

Bis bald

Katrin